Welchen Wert hat ein Leben?
Darf die Erhaltung eines Menschenlebens 100'000 oder eine Million Franken kosten? Eine Antwort auf diese Frage muss die Politik geben, wenn das solidarische Gesundheitssystem der Schweiz bestehen bleiben soll.
Das Bundesgericht hat kürzlich entschieden, dass die obligatorische Krankenversicherung nicht jede medizinisch mögliche Therapie übernehmen muss.
Trotz stetig steigender Krankenkassenprämien stehen keine unbegrenzten Mittel zur Therapierung von Krankheiten zur Verfügung.
So mussten die Bundesrichter darüber urteilen, ob eine Krankenkasse zur Zahlung des Medikaments Myozyme bei der Krankheit Morbus Pompe (siehe Kasten rechts) verpflichtet werden kann. Die jährlichen Kosten pro Person betragen rund eine halbe Million Franken.
Das Gericht fand gleich mehrere Begründungen für die Ablehnung der Arznei, die nicht auf der Spezialitätenliste aufgeführt ist. So sei für Myozyme kein hoher therapeutischer Nutzen ausgewiesen.
Ein Abschnitt in der Urteilsbegründung ist für den Theologen Markus Zimmermann vom Departement für Moraltheologie und Ethik an der Universität Freiburg schon fast eine Provokation, oder eine Art «pädagogischer Hinweis» – formuliert im Hinblick auf weitere Fälle, die in Zukunft zu beurteilen sein werden: «Wenn man für alle 180’000 Menschen, die unter ähnlichen Einschränkungen leiden im Jahr 500’000 Franken zur Verfügung stellen würde, könnten sie zwar alle besser atmen, aber den Staat würde das 90 Mrd. Franken kosten – eineinhalb Mal so viel wie die gesamten Gesundheitskosten.»
Das ist ein kleiner pädagogischer Hinweis: Wir können nicht alles bezahlen, was möglich ist.
Um die vorhandenen Mittel möglichst gerecht zu verteilen und die Kosten nicht total aus dem Ruder laufen zu lassen, hat das Bundesgericht deshalb den Grundsatz der Verhältnismässigkeit bemüht.
Laut diesem darf eine Krankenkasse eine Leistung verweigern, wenn ein grobes Missverhältnis zwischen Aufwand und Heilerfolg besteht. Je höher der therapeutische Nutzen ist, desto höher dürfen dann auch die Kosten sein.
«Da ja, dort nein»
«Wir können natürlich jetzt schon nicht alles machen, was möglich wäre», sagt denn auch Jacques de Haller, Präsident der Verbindung Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH), gegenüber swissinfo.ch. «Man muss vernünftig bleiben und entscheiden: Da ja, dort nein.»
Müssten nicht alle Menschen gleich behandelt werden? Oder ist die Frage erlaubt, ob man einem 85-Jährigen unbedingt noch ein neues Hüftgelenk einsetzen muss?
«Ich bin Mediziner und ganz klar für eine Fall-zu-Fall-Beurteilung», erklärt de Haller. «Es gibt Menschen, die mit 85 Jahren unbedingt eine Hüftprothese brauchen. Bei einem Jüngeren bringt sie eventuell nicht so viel.»
In Fällen wie Hüftleiden oder Kopfschmerzen wollen die Ärzte mit jeder Patientin, jedem Patienten entscheiden können, welche Behandlung eingesetzt wird.
«Aber wenn es um spezielle Behandlungen geht, die mehrere hunderttausend Franken pro Jahr kosten und nur deswegen abgelehnt werden können, dann sollten wir nicht selber entscheiden müssen, denn der Patient, die Patientin ist im Moment der Behandlung der wichtigste Mensch für uns. Für diese Person möchten wir alles tun, was wir können. In solchen Fällen können wir nicht gleichzeitig Richter und Partei sein.»
Aus diesem Grund brauche es allgemeine Regeln, die im Moment noch nicht beständen. «Es gibt momentan keine Regel, die mir erlaubt, einem Patienten zu sagen, ich darf Ihnen dieses Medikament nicht verordnen, weil es einfach zu teuer ist», sagt de Haller weiter.
Auch die Krankenkassen-Vereinigung Santésuisse fühlt sich nicht dafür zuständig: «Es darf und kann nicht Aufgabe der Krankenversicherer sein, Entscheide zu fällen oder Definitionen zu liefern zum Wert eines Lebens», schreibt Silvia Schütz, Santésuisse-Mediensprecherin.
Genauso wenig sei deren Aufgabe, allfällige Höchstgrenzen für Ausgaben zu setzen. «Das käme einer moralisch fragwürdigen Doppelrolle gleich (Leistungserbringer und Entscheidungsinstanz), die die Krankenversicherer in aller Form ablehnen.»
Schwierige Frage
Wer beantwortet nun die Frage, was ein Menschenleben kosten darf? Weder den Krankenkassen, den Ärzten, dem Bundesamt für Gesundheit noch dem Ethiker lassen sich konkrete Zahlen entlocken.
Im Fall des Myozene-Urteils heisst das, die Patientin erhält das Medikament nicht mehr. «Das hat in erster Linie für die Pharmaindustrie eine Bedeutung», sagt der Theologe Zimmermann.
«Für die Frau hat es vielleicht eine gewisse psychologische Bedeutung, denn es besteht offensichtlich kein Zusammenhang zwischen dem Absetzen des Medikamentes und den Beschwerden, die danach eingetreten sind, dass sie nicht mehr so gut atmen und weniger weit laufen konnte. Die Folgen gehören zum normalen, typischen Krankheitsbild. Die Forschung zeigt, dass das Medikament bei Erwachsenen keinen Einfluss auf den Krankheitsverlauf nimmt.»
Um Leben und Tod?
Wäre es um Leben und Tod gegangen, wäre aber niemals so ein Urteil gefällt worden, ist Markus Zimmermann überzeugt. «Dann würde bezahlt.»
Es gäbe einen Aufschrei in der Gesellschaft, ist er überzeugt. «Auch wenn die Patienten dann trotzdem sterben.» Dies sehe man bei den neuen, teuren Krebs-Medikamenten, bei deren Einsatz es in der Regel um eine gewisse Lebensverlängerung gehe.
Die Grundsatzfrage, was ein Leben kosten dürfe, müsse einmal auf den Tisch, sonst werde das ganze System gefährdet. «Und das wäre auch aus ethischer Sicht höchst ungerecht und schlecht, wenn dieses solidarische System, das in der Schweiz bis heute sehr gut funktioniert, gefährdet würde.»
Die ersten Schritte seien politisch gesehen schon lange passiert. So sei beim Bundesamt für Gesundheit eine Initiative im Gang, eine Institution zu gründen, welche die Kosteneffektivität medizinischer Massnahmen prüft und diese finanziert oder nicht.
«Wenn wir alles finanzieren, kostet uns das zu viel. Da würden dann andere Dinge auf der Strecke bleiben. Und gerade Bildung, Ausbildung und Arbeit sind ganz wesentlich für die Gesundheit von uns Menschen», so Zimmermann.
Die Frage der Kosteneffektivität von neuen Interventionen müsse endlich öffentlich diskutiert werden. «Das ist die ethisch vertretbare Art und Weise, mit diesen Fragen umzugehen, weil sonst bei jenen Menschen gespart wird, die sich am wenigsten zu wehren wissen. Die politische Art ist eher, die Frage zu verdrängen, weil die Politiker davon ausgehen, nicht wiedergewählt zu werden.»
Eine seltene (1 auf 40’000 Geburten) Stoffwechselstörung, die sich überwiegend in der Muskulatur bemerkbar macht. Sie wird auch als Glykogenose Typ II bezeichnet.
Weltweit geht man von 5000 bis 10’000 von der erblichen Krankheit Betroffenen aus.
Der niederländische Pathologe Joannes Cassianus Pompe hat 1932 die Symptome erstmals beschrieben.
Als Ursache der Krankheit gilt das Fehlen der «lososomalen α-Glucosidase», eines Enzyms.
Die Krankheit kann in jedem Alter auftreten. Sie endet bei Säuglingen bis zum ersten Lebensjahr tödlich.
Beobachtete Symptome: fortschreitende Muskelschwäche (Zwerchfell, Skelettmuskulatur wie Oberarm, Becken, Oberschenkel).
Eine Heilung ist bislang nicht möglich.
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