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Wie die ETH Zürich ihre internationale Spitzenposition wahrt

Günther Dissertori
Günther Dissertori, geboren in Meran, lehrt seit 2001 an der ETH Zürich und ist seit Februar 2022 deren Rektor. © Keystone / Christian Beutler

Der italienische Teilchenphysiker Günther Dissertori ist seit Februar 2022 Rektor der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH). Seiner Ansicht nach gelingt es der ETH dank massiven Investitionen des Bundes in Bildung und Forschung, auf internationalem Niveau wettbewerbsfähig zu sein. Der Ausschluss aus dem EU-Forschungsprogramm "Horizon" könnte mittelfristig aber Probleme schaffen.

Günther Dissertori, Jahrgang 1969, erwartet uns in seinem geräumigen Büro im ersten Stock des Hauptgebäudes der ETH Zürich. Durch die Fenster lässt sich die ganze Stadt überblicken, obwohl es schon dunkel ist.

Dissertori stammt aus dem italienischen Südtirol, studierte an der Universität Innsbruck (Österreich) und ging dann ans CERN in Genf. Bereits im Jahr 2001, im Alter von nur 32 Jahren, erhielt er eine Assistenzprofessur an der ETH, sechs Jahre später wurde er zum ordentlichen Professor für Teilchenphysik ernannt.

Seit dem 1. Februar 2022 ist Dissertori Rektor der ETH Zürich, als Nachfolger von Professorin Sarah Springman. In dieser Funktion traf er im Dezember 2022 den Präsidenten der italienischen Republik Sergio Mattarella.

Dieser besuchte während seiner zweitägigen Staatsvisite in der Schweiz auch das Zürcher Polytechnikum. An dieser Hochschule gibt es heute eine “Kolonie” von mehr als 400 Italiener:innen.

swissinfo.ch: Was war Ihr Kindheitstraum?

Günther Dissertori: Als Kind wollte ich – ehrlich gesagt – Astronaut werden. Ich glaube, diesen Traum haben viele Kinder. Die Naturwissenschaften und die Technik haben mich schon immer interessiert.

Irgendwann schlug ich dann den Weg der Physik ein und habe ihn seitdem nie wieder verlassen. Eine Entscheidung, die ich bis heute nie bereut habe.

Können Sie Ihren akademischen Weg skizzieren, der Sie nach Zürich geführt hat?

Ich habe in Innsbruck Physik studiert. Ich wählte diesen Studienort, weil ich in meiner Muttersprache Deutsch studieren wollte. In Innsbruck hatte ich das Glück, einen Professor zu treffen, der eine aktive Forschungsgruppe am CERN in Genf leitete. Und so begann in gewisser Weise meine Beziehung zur Schweiz.

Während meines Doktorats an der Universität Innsbruck erhielt ich ein spezielles Stipendium und konnte damit am CERN arbeiten. So kam ich Anfang 1994 in die Schweiz und habe sie seither nicht mehr verlassen.

Im Jahr 2001 gewann ich, etwas überraschend, eine Ausschreibung für eine Assistenzprofessur an der ETH Zürich. Mit 32 Jahren war ich ja noch sehr jung. Und im Februar 2022 wurde ich Rektor unserer Hochschule.

Die ETH geniesst als Schweizer Hochschule weltweit ein sehr hohes Ansehen. Ist es sinnvoll, hier nach Nationalitäten zu unterscheiden, oder kennt die Welt der Wissenschaft keine Grenzen?

Ich würde Letzteres sagen. Forschung auf Spitzenniveau lebt vom internationalen Wettbewerb, sicherlich nicht allein vom nationalen Wettbewerb. Und die ETH Zürich ist seit jeher eine sehr internationale Hochschule, an der viele Studierende, aber auch sehr viele Forschende und Lehrende aus dem Ausland kommen.

Aber ich möchte einen wichtigen Schweizer Aspekt erwähnen, der es der ETH ermöglicht, im internationalen Wissenschaftswettbewerb auf höchstem Niveau mitzuspielen. Es ist die Tatsache, dass der Bund vor Jahren beschlossen hat, massiv in Bildung und Forschung zu investieren.

Und der Bund tut dies bis heute. Es handelt sich um einen essenziellen finanziellen Beitrag, mit dem die Schweiz ihren hervorragenden internationalen Ruf als Wissenschaftsstandort aufrechterhalten kann.

Apropos Spitzenniveau: Jedes Jahr rangiert die ETH unter den zehn besten Universitäten der Welt. Sind diese Ranglisten von Bedeutung?

Die klassische Antwort auf diese Frage lautet: “Ja und Nein.” Denn das Ranking spielt durchaus eine Rolle, wenn es darum geht, die besten männlichen und weiblichen Studierenden auf Master- oder Promotionsebene anzuziehen.

Denn die besten Studierenden der Welt schauen heute auf diese Rankings, bevor sie sich für einen Studienort entscheiden. Wir können also von einer höheren Attraktivität unserer Hochschule sprechen, weil wir zu den “Top Ten” der Universitäten weltweit gehören.

“Wir können von einer höheren Attraktivität unserer Hochschule sprechen, weil wir zu den ‘Top Ten’ der Universitäten weltweit gehören.”

Günther Dissertori, Rektor ETH Zürich

Dazu kommt die Welt der Wissenschaft, in der wir gewohnt sind, in einem sehr wettbewerbsorientierten Umfeld zu arbeiten.

In diesem Sinn leisten solche “Rankings” als Wettlauf um die Spitzenpositionen in der Forschung einen bedeutenden Beitrag.

Von keiner Bedeutung ist das Ranking hingegen, wenn wir über Bildung, Lehre und Forschung sprechen.

In diesen Fällen wollen wir einfach gut sein. Denn wir wollen, dass diejenigen, die bei uns studieren und forschen, in unserer Einrichtung unter den bestmöglichen Bedingungen und auf höchstem Niveau ausgebildet werden.

Dabei geht es nicht darum, dass wir ständig über die “Rangliste” nachdenken. Das “Ranking” ist dabei, wenn überhaupt, ein Nebeneffekt unserer hervorragenden Arbeit.

In Anbetracht der Spitzenposition der ETH: Was bedeutet es, dass die Schweiz aus dem europäischen Wissenschaftsprogramm “Horizon Europe” ausgeschlossen ist?

Das ist ein ernstes Problem. Und ich will es nicht kleinreden. Wir sind in grosser Sorge und haben das gegenüber den zuständigen Institutionen wiederholt gesagt. Es besteht die grosse Gefahr, dass die internationale Attraktivität der Hochschule leidet.

Eine wesentliche Besonderheit unserer Universität ist es, dass es gelingt, die besten Leute aus der ganzen Welt anzuziehen. Letztendlich sind es auch in der Wissenschaft die Menschen, die den Unterschied ausmachen.

Mit dem Ausschluss aus dem EU-Rahmenprogramm für Forschung und Innovation laufen wir Gefahr, dass Wissenschaftler:innen nicht mehr zu uns in die Schweiz kommen. Sie könnten sich für andere Orte entscheiden, etwa ein Angebot aus Deutschland annehmen.

Dies könnte sich auf Dauer nicht nur auf die Forschung, sondern auch auf die Lehre negativ auswirken. Denn wir wissen sehr wohl, dass die besten Wissenschaftler:innen oft auch die besten Lehrer:innen sind. Deshalb beobachten wir das Geschehen sehr aufmerksam und hoffen weiterhin auf eine Lösung dieses Problems.

Was ist die grösste Herausforderung für die Eidgenössische Technische Hochschule?

Es gibt eine Herausforderung, die mich beschäftigt, seit ich Rektor bin. In den letzten zehn bis 15 Jahren ist die Zahl der Studierenden an unserer Hochschule stark gestiegen. Und dieses Wachstum wird sich in den kommenden Jahren fortsetzen.

Einerseits ist das gut, denn das Land braucht ausgebildete Fachkräfte. Andererseits wachsen unsere finanziellen Mittel nicht im gleichen Masse wie die Zahl der Studierenden.

Es tut sich folglich eine immer grössere Lücke auf, die wir schliessen müssen, um die Qualität unseres Unterrichts in einem sehr komplexen Kontext auch in Zukunft gewährleisten zu können.

Eine letzte Frage: Würden Sie nach Italien zurückkehren, wenn die Voraussetzungen gegeben wären?

Ehrlich gesagt, ist dies momentan keine ernsthafte Option. Ich bin mit meiner derzeitigen Situation hier in Zürich sehr zufrieden. Vielleicht denke ich eines Tages darüber nach, nach Südtirol zurückzukehren und dort zu leben. Schliesslich bin ich dort geboren und aufgewachsen, aber beruflich bin ich sehr glücklich, wo ich im Moment bin.

Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob

Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob

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