Wie sich die Schweiz auf eine mögliche nukleare Eskalation vorbereitet
Der Krieg in der Ukraine eskaliert weiter, der russische Präsident Wladimir Putin droht einmal mehr mit dem Einsatz von Atomwaffen. Das schürt Ängste in Europa. Die Schweiz ist vergleichsweise vorbereitet, aber selbst die legendären Schweizer Bunker reichen im Falle eines gross angelegten Atomkrieges nicht aus.
Der Krieg in der Ukraine geht unvermindert weiter und ein Ende ist nicht in Sicht. Auf den Vormarsch ukrainischer Truppen in die von Russland besetzten Gebiete hat der Kreml mit der Bombardierung von Städten und strategischer Infrastruktur reagiert. Putin hat auch wiederholt mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht, um «die territoriale Integrität unserer Heimat zu verteidigen», einschliesslich der von ihm illegal annektierten ukrainischen Gebiete.
Die meisten Analyst:innen sind sich einig, dass das Risiko eines russischen Atomangriffs in der Ukraine nach wie vor gering ist. Nicht nur macht der Einsatz von Atomwaffen aus militärischer Sicht wenig Sinn, der Kreml könnte damit auch eine Reaktion der NATO auslösen und würde zudem Russland international isolieren.
Trotzdem ist es nicht ausgeschlossen, dass Moskau als letztes Mittel zu nuklearen Waffen greift – höchstwahrscheinlich zu kleineren «taktischen» Atomwaffen mit geringer Zerstörungskraft – um die ukrainische Gegenoffensive zu stoppen.
>> Wie hoch ist die nukleare Gefahr? Hier die Antwort eines Experten:
Die Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes nehme daher ständig zu, sagt Stephen Herzog, Atomwaffenexperte am Zentrum für Sicherheitsstudien (CSS) der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH). «Die Auswirkungen eines Atomkriegs wären für die Ukraine, Europa und darüber hinaus verheerend. Es ist notwendig, für die Szenarien zu planen und bereit zu sein», sagt er.
Wie gut ist die Schweiz vorbereitet?
Die Schweiz scheint relativ gut auf die Folgen eines nuklearen Ereignisses in der Ukraine vorbereitet zu sein. Seit dem Unfall im japanischen Atomkraftwerk Fukushima im Jahr 2011 hat der Bund seinen Schutz vor atomaren, biologischen und chemischen (ABC) Bedrohungen und Gefahren verbessert.
«Die Schweiz hat in den letzten zehn Jahren ihr ohnehin schon hohes nukleares und radiologisches Schutzniveau weiter ausgebaut und ist gut aufgestellt», sagt Anne Eckhardt, Biophysikerin und Vorsitzende der ABC-Kommission des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz (BABS). Laut Eckhardt wäre die Schweiz auch in der Lage, Menschen aus verstrahlten Gebieten medizinisch zu versorgen.
In einem Bericht von 2019 hatte die ABC-Kommission die Qualitätsinfrastruktur als besondere Stärke der Schweiz aufgeführt. Dazu gehört unter anderem das Labor Spiez, ein nationales Zentrum für die Analyse von atomaren, biologischen und chemischen Bedrohungen.
Im internationalen Vergleich zeigt sich aber, dass die über das ganze Land verteilten Bunker die eigentliche Stärke der Schweiz sind. Das Land verfügt über mehr als 360’000 solcher Schutzräume und kann im Notfall die gesamte Bevölkerung darin unterbringen, was in Europa und der Welt einzigartig ist.
>> Wie es in einem Atombunker aussieht:
«Obwohl viele europäische Länder zivile oder militärische Nuklearpläne entwickeln, verfügen sie einfach nicht über die Infrastruktur der Schweiz», sagt Herzog.
In Ländern wie Rumänien und der Slowakei, die näher an der Ukraine liegen und somit den Folgen eines Atomkriegs in der Region stärker ausgesetzt sind, werden in den Statistiken auch normale Keller und Garagen als Schutzräume gezählt. Diese können laut Herzog im Falle eines Atomereignisses jedoch nicht genügend schützen.
Relativ gut im internationalen Vergleich stehen Schweden und Finnland da, sie haben Schutzräume für etwa 80 respektive 70% der Bevölkerung. Damit ist die Abdeckung jedoch deutlich geringer als in der Schweiz.
Schweizer Modell ist nicht perfekt
Aber auch die Schweiz könnte mehr tun. Nicht alle Kantone erfüllen die Vorgabe, dass jeder Einwohner und jede Einwohnerin innerhalb von 30 Minuten zu Fuss eine Schutzanlage erreichen können muss. Am schlechtesten schneiden Genf, Basel-Stadt und Neuenburg ab. Ein kürzlich erschienener Bericht des BABS hat zudem auf die schlechte Wartung der Zivilschutzbunker hingewiesen und 230 Mängel beim schweizerischen ABC-Schutz festgestellt.
Die gravierendsten Mängel betreffen sowohl die unzureichende Aufgabenteilung zwischen Kantonen und Bund im Ernstfall als auch die Aufteilung innerhalb der Bundesverwaltung selbst. Der Bericht weist auch auf einen Mangel an Schutzausrüstungen hin.
Erschwerend kommt hinzu, dass es an ABC-Spezialist:innen mangelt, welche die Lage rasch einschätzen und über mögliche Massnahmen beraten könnten. Laut Eckhardt gehen mit dem Ausstieg aus der Kernenergie auch wichtige Kompetenzen verloren: Viele Menschen mit Atomenergieerfahrung gehen in den Ruhestand, und es ist schwierig, sie zu ersetzen.
Diese Engpässe machen eine weitere Komplikation deutlich: Der sehr schnelle technologische und wissenschaftliche Fortschritt bringt neue Herausforderungen und Bedrohungen mit sich, die komplexer vorherzusagen und zu bewältigen sind als noch vor Jahrzehnten. Russland beispielsweise hat sein Atomwaffenarsenal modernisiert und verfügt nun über ein breites Spektrum an taktischen Waffen (rund 2000), von nuklearen Artilleriegranaten bis hin zu Halbtonnensprengköpfen.
«Wir müssen bedenken, dass letztlich niemand perfekt vorbereitet ist, auch nicht die Schweiz», sagt Eckhardt.
Was wären die Folgen?
Sogenannte «taktische» Atomwaffen haben eine Sprengkraft von weniger als einer Kilotonne bis zu 50 Kilotonnen. Zum Vergleich: Die Bombe, die im Zweiten Weltkrieg auf Hiroshima abgeworfen wurde, hatte eine Sprengkraft von 15 Kilotonnen. Je nach dem, welche Waffe Russland einsetzen würde, wären die Folgen sehr unterschiedlich.
Laut Andreas Bucher vom Kommunikationsbüro des BABS würde der Einsatz von taktischen Atomwaffen in der Ukraine die Gesundheit der Schweizer Bevölkerung nicht gefährden. Diese Einschätzung teilt auch Eckhardt.
Diese taktischen Waffen würden wahrscheinlich weniger Radioaktivität freisetzen als die Hiroshima-Bombe oder die Explosion in Tschernobyl. Dies, weil zum Zünden der Bombe nur wenig Spaltmaterial genügen würde, erklärte Experte Walter Rüegg in einem Interview mit der Neuen Zürcher ZeitungExterner Link.
Das BABS rechnet deshalb nicht damit, dass im Falle eines russischen Atomwaffeneinsatzes in der Ukraine die Schweizer Bevölkerung Schutzbunker aufsuchen müsste. Allenfalls würden Jagd- und Weideverbote ausgesprochen sowie die Bevölkerung darüber informiert, dass sie gewisse Lebensmittel meiden sollte, so Bucher. Der Bevölkerungsschutz geht auch nicht davon aus, dass Jodtabletten an die Schweizer Bevölkerung verteilt werden müssten, weil diese nicht gegen alle radioaktiven Elemente schützen. Die Tabletten sind eher für den Fall eines Unfalls in einem Atomkraftwerk in der Schweiz gedacht.
Für die Schweiz deutlich kritischer als der Einsatz taktischer Atomwaffen wäre laut BABS ein schwerwiegendes Ereignis in einem AKW in der Ukraine. In diesem Fall würde nämlich permanent radioaktives Material austreten, was eine grössere Kontamination zur Folge hätte.
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Vorbeugen ist besser als heilen
Wenn tatsächlich eine atomare Bombe gezündet würde, hinge das Ausmass des radioaktiven Niederschlags von vielen Faktoren ab: Sprengkraft der Waffe, Höhe der Detonation und Wetterbedingungen.
In einigen Szenarien wäre die Schweiz dank der weiten Entfernung zum Kriegsgebiet und den Schutzbunkern gut vor Radioaktivität geschützt. «Aber in anderen Szenarien könnten die Schweizer Bevölkerung und die Landwirtschaft betroffen sein», sagt Herzog.
Anders sieht es aus, wenn die NATO in den Krieg involviert würde. Eine Atombombe über Deutschland, Frankreich oder Italien würde das Risiko für die Schweizer Bevölkerung natürlich drastisch erhöhen. Obwohl diese Hypothese sehr unwahrscheinlich ist, müssen die Behörden laut Herzog die Notfallvorsorge auf nationaler Ebene erhöhen.
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«Die Auswirkungen wären ähnlich wie bei einem AKW-Unfall»
Die Schweiz tut dies bereits. Ende September hat die Regierung einen strategischen Führungsstab auf Bundesebene eingerichtet, um im Falle eines nuklearen Ereignisses schnell reagieren zu können.
Massnahmen wie diese sind wichtig, reichen aber nicht aus, meint Wilfred Wan, Experte für Massenvernichtungswaffen am Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstitut (SIPRI).
«Selbst wenn einige Länder wie die Schweiz über Luftschutzbunker oder nationale Notfallverfahren verfügen, wäre jeder Staat mit den verheerenden Folgen von Atomwaffen überfordert», sagt Wan. Deshalb, so der Experte, sei es wichtig, über Prävention und nicht über Reaktion zu sprechen.
Aus einer Studie der Vereinten Nationen geht hervor, dass weder einzelne Staaten noch das internationale humanitäre System in der Lage wären, umgehend und schnell auf das breite Spektrum möglicher Auswirkungen des Einsatzes von Atomwaffen zu reagieren.
«Ganz zu schweigen von den möglichen Auswirkungen auf die Umwelt und das Klima, die Landwirtschaft, die Migration und andere direkte und indirekte Folgen», argumentiert Wan. Die Vorbeugung eines solchen Ereignisses, kommt die UNO-Studie zum Schluss, bleibt daher der einzige wirklich wirksame humanitäre und gesundheitspolitische Ansatz.
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