Zürich und das Vermächtnis Karls des Grossen
Kaiser Karl der Grosse mag schon seit 1200 Jahren tot sein, doch für viele Menschen in Zürich ist er auch heute bedeutend. Seine Statue blickt vom Grossmünster auf die Stadt. Er liess dieses der Legende nach erbauen, nachdem er dort auf die Gräber der Stadtheiligen gestossen war.
Es ist ein kalter Wintermorgen und eine Gruppe von Besuchern richtet den Blick nach oben, zur Statue von Karl dem Grossen am Südturm der Kirche. Er sitzt, ein Schwert in der Hand, das für Gerechtigkeit und Krieg steht, mit einer goldenen Krone auf dem Haupt. Und scheint seinen Blick über die Finanzmetropole der Schweiz zu richten.
«Tatsächlich blickt er zur Fraumünsterkirche», erzählt unser Führer. «Und zwar, um der von einem König gegründeten Kirche zu sagen, dass diese Kirche hier auf einen Kaiser zurückgeht und um eine Nummer grösser ist!»
Die Statue, die wir sehen, ist ein Ersatzmodell. Das Original, das etwa 1491 entstand, befindet sich in der Krypta. Prominent an den sonst blanken Wänden des von der Zwingli-Reformation beeinflussten Innern der Kirche findet sich zudem ein Relief von Karl dem Grossen mit den beiden Zürcher Heiligen Felix und Regula.
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Das Europa Karls des Grossen
Kopflose Heilige
«Die Heiligen hatten einen starken Einfluss auf das religiöse Leben in Zürich, sie waren Märtyrer, die unter römischer Herrschaft für den christlichen Glauben starben», erklärt der Stadtarchäologe Andreas Motschi.
Weil sie sich weigerten, die römischen Götter anzubeten, wurden sie vor Gericht gestellt, gefoltert und anschliessend enthauptet. «Und dann geschah dieses Wunder: Die kopflosen Körper standen auf, nahmen ihren Kopf unter den Arm und gingen ein paar Schritte dahin, wo sie begraben werden wollten. An dieser Stelle steht heute das Grossmünster», sagt Motschi.
Es heisst, dass Karl der Grosse (748-814) die Gräber von Felix und Regula entdeckt habe, als diese schon fast in Vergessenheit geraten waren. Die Legende besagt, dass er bei einer Jagd in Deutschland auf einen grossen Hirsch gestossen sei, den er durch ganz Europa bis nach Zürich verfolgt habe.
Der Hirsch sei schliesslich an der Stelle der Gräber in die Knie gesunken, wie auch das Pferd von Karl dem Grossen und sein Jagdhund. Der Kaiser deutete dies als ein Zeichen von Gott und befahl, an der Stelle eine Kirche zu bauen.
Festmahl
Der Kult, der sich um Karl den Grossen entwickelte, überlebte die Reformation und wird noch heute ausgeübt. So feiert die Zürcher Zunft zur Schneidern ihren Schutzpatron Karl den Grossen jedes Jahr am 28. Januar, dem Todestag des Kaisers, mit dem «Carlimahl».
Mitglieder der Zunft kommen dazu in bescheidener Umgebung in ihrem Zunfthaus zu einem Abendessen zusammen. Das historische Gebäude gehörte einem früheren Gemeindepräsidenten und befindet sich nicht weit entfernt vom Grossmünster. Zum Abschluss der Veranstaltung spricht der Zunftmeister einen Toast auf Karl den Grossen aus und nimmt den ersten Schluck aus dem «Carli-Kelch», der dann die Runde macht.
«Es heisst, dass Karl der Grosse in seinem Gefolge stets zwei Schneider gehabt habe, daher ist er der Schutzpatron der Schneider in Zürich», erklärt Jörg Zulauf von der Zunft zur Schneidern.
«Der Anlass dient dazu, unsere Kameradschaft zu fördern und zu stärken. Die Teilnehmer bekräftigen deshalb, auf Einladung des Zunftmeisters, auch jeweils das Motto ‹treu und wahr für immer!›, wenn sie einen Schluck aus dem Kelch nehmen», fügt Zulauf hinzu.
Zürcher Symbol?
Karl der Grosse war ein visionärer Herrscher, der viel zur Gestaltung Europas beitrug. Das Relief in der Kirche, das Felix und Regula eher ungewöhnlich mit ihren Köpfen zeigt – die meisten Darstellungen zeigen die grausamere Version – sei ein starkes Symbol, sagt Stadtarchäologe Motschi.
Es gibt kein Porträt von Karl dem Grossen aus der Zeit, als er lebte, mit Ausnahme einiger Münzen, doch tragen diese ein Profil in römischem Stil.
Spätere idealisierte Porträts erhöhten den legendären Status des Kaisers.
In der Ausstellung im Landesmuseum Zürich sind Gemälde aus zwei Ländern zu sehen, die Karl den Grossen für sich beanspruchen: Das Bildnis Karls von 1514 aus der Werkstatt Albrecht Dürers (Deutschland), und eine Darstellung Karls von Louis-Félix Amiel von 1839 (Frankreich).
«Man sieht Karl den Grossen, die weltliche Macht, den Kaiser, den Richter, den frommen Christen, sowie die beiden Märtyrer, die für ihren christlichen Glauben das ultimative Opfer erbrachten. Das ist sehr stark. Stärker als jeder Bischof. Die Stadt war nie ein Bistum, ist aber mit diesen Drei sehr gut bedient.»
Eine andere Legende erzählt, dass Karl der Grosse im Haus zum Loch gleich neben dem Grossmünster als Richter für eine Schlange auftrat, auf deren Eier sich eine giftige Kröte breit gemacht hatte.
Schriftliche Quellen aus jener Zeit sind sehr rar, es ist historisch nicht belegt, ob Karl der Grosse wirklich der Wohltäter des Grossmünsters war, und auch nicht, ob er wirklich jemals nach Zürich gekommen war, auch wenn er erwiesenermassen andere Teile der Schweiz besucht hatte.
Tatsächlich entstanden die Legenden lange nach seinem Tod und wurden zum Beispiel aufgezeichnet von Heinrich Brennwald (1508-1516).
Karl der Grosse findet sich auch auf dem Logo der Universität Zürich. Und es ist kein Zufall, dass das Landesmuseum Zürich zurzeit eine umfassende Ausstellung über Karl den Grossen und die Schweiz zeigt.
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Der «Grosse»
Im Jahr 800 wurde Karl der Grosse zum ersten Kaiser seit dem Fall Roms im 5. Jahrhundert gekrönt. Er einte Grosseuropa und reformierte Bildung und Gesellschaft. Die heutige Schweiz lag im Herzen seines Reichs, das sich über fast die Hälfte Europas erstreckte (siehe Grafik).
Der charismatische, grossgewachsene Herrscher, von dem man sagt, er habe einen durchdringenden Blick gehabt, war schon zu Lebzeiten als der «Grosse» bekannt.
Neben den Schrift- und Währungsreformen führte er organisatorische Strukturen ein und sanktionierte dabei auch staatliche Gewalt, um seine Ziele zu erreichen, wie Jürg Goll erklärt, Co-Autor des Buchs «Die Zeit Karls des Grossen in der Schweiz» und Mitarbeiter der aktuellen Ausstellung des Nationalmuseums.
«Doch daneben gab es die Förderung von Kultur, Sprache und Religion, die Förderung von Klöstern und Kunst; alles Dinge, deren Spuren man heute noch sehen kann, und die, wenn man von nahe schaut, alle Teil unseres kulturellen Erbes sind.»
Auch wenn der Besuch in Zürich historisch nicht belegt ist; bekannt ist, dass Karl der Grosse in Genf war und mehrmals die Alpen überquerte, wie Christine Keller erklärt. Sie ist Kuratorin der Ausstellung «Karl der Grosse und die Schweiz» des Schweizerischen Nationalmuseums, die noch bis am 2. Februar 2014 im Landesmuseum Zürich zu sehen ist.
Karl der Grosse soll auch das Kloster St. Johann in Müstair (Graubünden) gegründet haben, das heute mit seinen noch erhaltenen karolingischen Wandmalereien zum Unesco-Weltkulturerbe zählt.
Das Kloster St. Gallen, das ebenfalls zum Unesco-Weltkulturerbe gehört, florierte in der Zeit Karls des Grossen, und die Buchproduktion des Klosters wurde von der karolingischen Buchkunst beeinflusst.
Mit der Münzreform schuf Karl der Grosse eine Einheitswährung – den ersten «Euro» –, die in Teilen der Schweiz bis zur Einführung des Franken 1850 verwendet wurde.
In der multimedialen Ausstellung sind rund 200 Exponate zu sehen, Leihgaben aus 48 nationalen und internationalen Einrichtungen.
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
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