Zuerst die Pflanzen, dann deren Samen
Bei unserem Rundgang durch die Untersuchungsgebiete waren wir oft unsicher, was wir da eigentlich sahen. Viele Pflanzen waren entweder sehr jung oder viel kleiner als in dem Bestimmungsbuch beschrieben, das wir dabei hatten.
Die schlecht entwickelten Böden und der geringe Nährstoffgehalt sind nur zwei Gründe, warum diese Pflanzen oft so klein und verkümmert sind. Auch die rauen Umweltbedingungen wie die kalten Temperaturen, der Permafrost und die kurze Sommersaison spielen eine wichtige Rolle.
Zudem war auch die Form manchmal unterschiedlich, was es uns sehr erschwerte, bestimmte Arten direkt zu identifizieren. In diesen Fällen nahmen wir die Exemplare mit zurück in unsere Herberge oder auf unser Boot, um sie abends genauer zu betrachten.
Feldnotizen aus der Arktis
Die Doktorandinnen Lena Bakker, Sigrid Trier Kjaer und Jana Rüthers (v.l.n.r.) von der ETH Zürich haben sich auf den Weg zur norwegischen Inselgruppe Spitzbergen gemacht. Im hohen Norden wollen sie die Begrünung der Arktis untersuchen; ein Prozess, der durch die globale Erwärmung ausgelöst und lokal durch die chemische und geologische Beschaffenheit des Bodens bestimmt wird.
Dort schauten wir sie mit einer Lupe genauer an und besprachen alles gemeinsam. Wenn wir sie immer noch nicht identifizieren konnten, trockneten wir sie in einer Pflanzenpresse, um sie mit nach Hause zu nehmen.
Unsere norwegische Mitarbeiterin und Expertin für die Flora Spitzbergens, Kristine Bakke Westergaard, nahm die «schweren Fälle» mit, um sie mit anderen Arten zu vergleichen, die sie bereits bei früheren Gelegenheiten gesammelt hatte.
An unseren Untersuchungsstandorten in der Nähe der menschlichen Siedlungen Barentsburg und Pyramiden, wo der Boden durch Landwirtschaft und eingeschleppte Pflanzen gestört wurde, war die Identifizierung einfacher.
Aber nicht unbedingt im positiven Sinn: Einige Arten kannten wir bereits von zu Hause, wie die Schafgarbe, die Winterkresse, den Gemeinen Hahnenfuss und den Gartenehrenpreis. Sie wuchsen dort und waren weit verbreitet.
Wir waren wirklich schockiert, als wir sahen, wie stark die Ökosysteme in Svalbard bereits verändert sind und wie effektiv die neu eingeführten Arten das Wachstum der einheimischen Pflanzen unterdrücken oder sie sogar vollständig ersetzen.
Diese Arten profitieren von den nährstoffreichen Böden, welche die russischen Minenarbeiter einst einführten, und auch von den zusätzlichen Nährstoffen aus ehemaligen Tierställen oder den heutigen Hundehöfen, einem Stück Land neben den Häusern der Menschen, auf dem viele Schlittenhunde (vor allem Huskys für touristische Touren) innerhalb eines Zauns gehalten werden und das ganze Jahr über draussen in kleinen Hütten leben.
Die Klimaerwärmung fördert die Etablierung und Ausbreitung dieser Arten zusätzlich. Dies ist einer der Gründe, warum wir in Zürich ein Gewächshaus-Experiment einrichten wollen. Wir planen, verschiedene Pflanzenarten auf unterschiedlichen Bodentypen und Nährstoffniveaus und unter verschiedenen Temperaturregimen anzubauen.
Wir mischen dafür einheimische Tundra-Arten aus Svalbard mit einheimischen Arten, die ihr Verbreitungsgebiet unter günstigeren Bedingungen ausdehnen werden, aber auch mit nicht einheimischen Arten wie denen aus den Siedlungen (Schafgarbe, Winterkresse usw.).
Unser Ziel ist es, herauszufinden, wie die Arten auf die verschiedenen Behandlungen reagieren – um zu sehen, wie sich die Ökosysteme Svalbards mit der Klimaerwärmung verändern könnten und welche Arten davon profitieren oder gefährdet sind.
Für dieses Experiment kehrten Jana und Kollege Simone Ende August nach Svalbard zurück, um Samen und Jungpflanzen zu sammeln. Wir merkten recht schnell, wie schwierig es war, genügend Samen der Arten zu finden, die wir sammeln wollten.
Bei einigen war die Samenproduktion bereits abgeschlossen, bei anderen hatte sie noch nicht einmal begonnen, oder wir konnten einfach nicht genügend Individuen finden.
Ausserdem hatte sich das Wetter in den zwei bis drei Wochen zwischen der ersten Exkursion und der Samenernte bereits verändert. Die Temperaturen waren gesunken, es regnete mehr, und auf den Berggipfeln war bereits der erste Schnee zu sehen.
Glücklicherweise arbeiteten wir hauptsächlich in der Nähe der Stadt Longyearbyen. So konnten wir in unseren Mittagspausen in unser Lieblingscafé «Fruene» gehen. Das leckere Essen und der heisse Tee wärmten uns für die nächste Samenjagd auf.
Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
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Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
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