Auch der Schatten hat seine Sonnenseiten
Von wegen Sonnenstube. Etliche Dörfer im Tessin, dem südlichsten Kanton der Schweiz, haben während des Winters über Monate keine direkte Sonneneinstrahlung.
Doch die betroffenen Bewohner sehen darin nicht nur Nachteile. Dem winterlichen Schatten können sie durchaus Sonnenseiten abgewinnen.
Hartnäckig hält sich für das Tessin die Bezeichnung Sonnenstube. Dabei hat der Südkanton auch naturgegebene Schattenseiten. Rund ein Dutzend Dörfer im Sopraceneri, dem nördlich gelegenen Kantonsteil, müssen im Winter auf direktes Sonnenlicht verzichten – die Periode kann von wenigen Wochen bis zu drei Monaten dauern.
Dezember und Januar sind die besonders kritischen Monate. Grund ist die schroffe Morphologie des Terrains; Berge und Hügelketten «verstellen» den Sonnenstrahlen je nach Position des Dorfes den Weg in die Talsohlen.
Gambarogno im Winterschlaf
Geradezu exemplarisch ist der Grenzverlauf zwischen Sonnen- und Schattenseite am Schweizer Becken des Lago Maggiore: Während das Gebiet um Ascona, Locarno oder den höher gelegenen Gemeinden Orselina und Brione in der Sonne badet, liegt das gegenüberliegende Gambarogno-Ufer im tiefen Winterschlaf.
Die Bewohner von Locarno bemitleiden daher ihre Landsleute auf der anderen Seeseite, verspotten sie sogar. «Im Winter keine Sonne, im Sommer keinen Mond», lautet ein Sprichwort.
Doch die Gambarognesi reagieren gelassen. «Eigentlich sind wir die Glücklichen», gab Marino Andreotti, der ehemalige Gemeindepräsident von Piazzogna im Gambarogno, bereits zu Protokoll. «Wenn wir im Winter hinüberschauen nach Locarno, sehen wir Bergrücken und Stadt in schönstem Licht.»
Umgekehrt müssten die Locarnesi in ein trauriges, dunkles Bild blicken. Denn das Gambarogno nehme sich im Winter aus wie ein finsterer Friedhof.
Die Vorteile der Schattenseite
Der amtierende Gemeindepräsident Piazzognas, der junge Olivier Chassot, ist sogar überzeugt, dass «man die Sonne mehr schätzt, wenn sie für einige Zeit ganz verschwunden ist».
Zudem nennt er weitere Vorteile der Schattenseite: «Wir legen hier jeden Winter eine natürliche Eisbahn. Das ist in Locarno nicht möglich.» Und überhaupt: Lieber habe er drei Monate Schatten als drei Monate Nebel, wie in Freiburg, wo er studierte.
Geradezu enthusiastisch schwärmt Otto Eisenhut vom winterlichen Schatten. Der Gärtner und Gründer des gleichnamigen botanischen Gartens in Vairano hebt vor allem die Vorteile für die Vegetation hervor: «Hier kann sich der Boden im Winter wirklich ausruhen».
Der anhaltende Bodenfrost täte den Pflanzen gut. So liesse sich vermeiden, dass Knospen spriessen und dann wieder abfrieren. Die geringeren Temperaturschwankungen über den Tag seien im übrigen auch für den Menschen angenehmer.
Lästiges An- und Ausziehen oder Schwitzen entfalle. «Als Gärtner kann ich den ganzen Tag in denselben Kleidern arbeiten.»
Kirchturm im Licht
Doch bei aller Liebe zum Schatten – die Rückkehr der Sonne wird auch in Piazzogna gefeiert. Und zwar am ersten Sonntag nach dem Heiligen Antonius, dem Schutzpatron der Pfarrkirche. Dieses Jahr trafen die Sonnenstrahlen erstmals am 20. Januar wieder auf den Kirchturm.
«San Antonio bringt die Sonne», heisst es im Dorf. Gerne rechnen die Einwohner auch vor, dass die Zahl der Sonnenstunden trotz Winterschattens im Jahresmittel höher liegt als auf der anderen Seeseite.
Tatsache ist aber: Der östliche Teil des Gambarogno-Ufers und die Verlängerung in der Magadino-Ebene bis Quartino und Contone gehören zu den Gebieten, die von der zeitweisen Sonnenabsenz besonders stark betroffen sind.
Dazu kommen einige Dörfer in der oberen Leventina, im Bedretto- oder Maggiatal. In einem regelrechten Schattenloch liegt die Walser-Gemeinde Bosco Gurin: Fast drei Monate lang muss der Ort ein Schattendasein fristen.
Keine harten Fakten
Die Experten von Meteo Schweiz können zu diesem Phänomen keine harten Fakten liefern. Ein Kataster zur Sonneneinstrahlung gibt es nicht. Doch als Faustregel gilt: Betroffen sind nordexponierte Gebiete in der Sohle tiefeingeschnittener Täler.
Ihre klimatisch-meteorologische Bezeichnung lautet «baciò», im Gegensatz zu den südexponierten Stellen, den «solatio».
Das Phänomen ist für Personen, die in den Schattengemeinden aufgewachsen sind, ganz normal und eigentlich nicht der Rede wert. «Wir kennen es seit der Geburt nicht anders», meint Lehrer und Grossrat Franco Celio aus Ambrì.
Sein Ort mit der national bekannten Hockeymannschaft habe im Winter zwar keine Sonne. Dafür sei die Position windgeschützt und somit weniger kalt als auf der besonnten Ebene.
Dies dürfte wohl auch das Motiv für die Dorfgründer gewesen sein, auf diese Seite der Hochebene auszuweichen – einer früher überschwemmten Sumpflandschaft.
Vom Schatten vertrieben
Was Einheimische von Kindes Beinen an wissen, kann für Zugezogene zu einem bösen Erwachen führen. So ist es schon vorgekommen, dass Leute, die im Sommer nach Magadino gezügelt sind, in ihrem ersten Winter von der Dauerschattenlage überrascht wurden.
Umgekehrt werden sich temporäre Bewohner der Gegend des Phänomens oft nicht bewusst. Gemeint sind die vielen Besitzer der Zweitresidenzen, die das Gambarogno praktisch nur vom Sommer kennen.
Denn im Sommer hat diese Gegend sogar mehr Sonne als ihr Gegenüber: Von morgens fünf bis abends nach neun Uhr. Auch wegen des günstigeren Sonneneinfallwinkels holt die Vegetation bereits ab dem Frühjahr schnell auf.
Zur Freude von Gärtner Otto Eisenhut. Auf der anderen Seeseite – frohlockt er – könnte sein botanischer Garten mit den prächtigen Magnolien und Kamelien nie so üppig gedeihen wie im Gambarogno.
swissinfo, Gerhard Lob
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