Auch in der Schweiz gibt es zuviele arme Kinder
Jedes zehnte Kind in der Schweiz lebt unter der Armutsgrenze.
Laut Hilfswerken fehlt es Kindern armer Familien in der Schweiz nicht nur am Allernötigsten. Sie haben auch als Erwachsene kaum Chancen, der Armutsfalle zu entkommen.
Das Schweizerische Arbeiterhilfswerk (SAH)lancierte diese Woche eine Kampagne gegen die zunehmende Kinderarmut in der Schweiz.
Aufgrund von Daten des Bundesamtes für Statistik und regionaler Sozialämter geht die Hilfsorganisation davon aus, dass gegen 250’000 Kinder in der Schweiz in Armut leben, dass es möglicherweise aber noch viel schlimmer ist.
«Diese Berechnung basiert auf der Anzahl Familien, die Sozialhilfe beziehen», erklärt SAH-Direktorin Brigitte Steimen gegenüber swissinfo.
«Aber die Hälfte der Familien, die Anrecht auf Sozialhilfe haben, wissen vermutlich gar nicht, dass sie diese beanspruchen können. Vielleicht ist also gar jedes fünfte Kind von Armut betroffen.»
Es fehlt das Lebensnotwendigste
Statt Armut am landesweiten Durchschnitts-Einkommen zu messen, konzentrierte sich das SAH auf eine detaillierte Prüfung der Einkommen in Bezug auf die regionalen Lebenshaltungskosten.
Laut Steimen bedeutet dies, dass die betroffenen Kinder nicht nur relativ gesehen arm sind, sondern dass ihnen auch das Lebensnotwendigste fehlt.
«Wir überprüften, wieviel man in der Schweiz braucht, um die Lebensgrundlagen wie Miete, Nahrungsmittel, Kleider und Krankenkasse zu bezahlen. Wir kamen zum Schluss, dass eine Frau mit zwei Kindern rund 4300 Franken pro Monat braucht. In einigen Städten, wo die tiefsten Mieten bei 1000 Franken liegen, könnte es aber wesentlich mehr sein.»
Viele Leute hätten aber nicht so viel Geld, betont Steimen: «Ich kenne eine Frau, die für ihre Kinder eine neue Matratze braucht, sich diese aber nicht leisten kann. Sie kann auch nie in die Ferien fahren. Ich spreche da nicht von Fernreisen. Nicht einmal ein kleiner Ausflug ist möglich.»
Internationale Hilfe
Das SAH kämpft nicht nur in der Schweiz für bessere Lebensbedingungen für Arme. Die Organisation leistet auch Entwicklungs- und humanitäre Hilfe in 12 weiteren Ländern, so zum Beispiel in Irak, Burkina Faso und Rumänien.
Und obwohl man sich natürlich bewusst ist, dass alte Matratzen und fehlendes Feriengeld in keinem Vergleich stehen zur Armut in diesen Ländern, betont Steimen, dass das Problem der Kinderarmut in der Schweiz nicht unterschätzt werden dürfe.
«Die ärmsten Kinder in der Schweiz verhungern vielleicht nicht, und sie haben im Allgemeinen genügend Kleider. Aber ihre Situation muss mit jener anderer Kinder in der Schweiz verglichen werden.»
Schon Kleinkinder aus armen Familien seien in der Schweiz sozial ausgegrenzt und könnten nicht an gesellschaftlichen Aktivitäten teilnehmen. Dies wirke sich auch auf ihr späteres Leben aus.
«Alle Studien zum Thema zeigen, dass wer arm aufwächst, ziemlich sicher auch arm bleibt. Was wir verlangen, ist nicht einfach Gleichheit, sondern gleiche Chancen für alle. Ich finde es skandalös, dass es dies in einer der ältesten Demokratien nicht gibt.»
Appell an die Öffentlichkeit
Das SAH will das Problem der Kinderarmut in der Schweiz unter anderem ganz direkt mit einer Poster-Kampagne angehen, mit der sie öffentlich um Spenden bittet.
Ein Teil des gesammelten Geldes soll direkt an die ärmsten Familien gehen. Der grösste Teil aber ist zur Finanzierung von Ausbildungs-Programmen für arme Kinder und Jugendliche gedacht.
Längerfristig will das SAH die systematischen Ursachen der Kinderarmut anpacken. So sollen führende Persönlichkeiten in Politik und Wirtschaft aufgefordert werden, sich mit den Ungerechtigkeiten bei den Steuern zu befassen, mehr familienexterne Kinderbetreuung zu schaffen und dafür zu sorgen, dass die Mutterschafts-Versicherung in der Schweiz endlich obligatorisch wird.
Solange jedoch die gesamte Wirtschaft in der gegenwärtigen Flaute steckt, dürften diese Forderungen auf taube Ohren stossen, wie das SAH einräumt. Das bedeutet, dass für die ärmsten Familien des Landes die harten Zeiten noch nicht vorbei sind.
swissinfo, Mark Ledsom
(Übertragung aus dem Englischen: Charlotte Egger)
Laut dem Schweizerischen Arbeiterhilfswerk (SAH) sind bis zu 250’000 Kinder und Jugendliche arm.
Die Folgen sind soziale Isolation, Ausgrenzung und Chancen-Ungleichheit.
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