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Ballungszentren hier, Entvölkerung da

Abgelegene Alpendörfer wie das bündnerische Vrin entvölkern sich. swissinfo.ch

In den Alpen läuft die wirtschaftliche und demografische Entwicklung in zwei Richtungen: Einige Regionen leiden unter Abwanderung, andere geraten in den Sog der Zentren.

Der Kulturraum der Alpen droht zu verschwinden, befürchtet der Geograf Werner Bätzing.

In den letzten Jahrzehnten haben die Metropolen, die an die Alpen angrenzen – also Zürich, Mailand, München oder Wien – ihre Einzugsgebiete immer vergrössert. Sie haben sich an die Bergregionen angenähert, und diese Entwicklung geht weiter.

18% der Alpenbewohnerinnen und -bewohner leben als Pendler. Auch sind verschiedene Gebirgsstädte wie Bozen, Trento, Klagenfurt, Chur, Vaduz oder Grenoble immer stärker mit den Metropolen verbunden.

Anders sieht es in den Regionen aus, die von den Alpen umschlossen sind. Sie sind in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation. Erfolg haben bloss einige touristische Zentren. Dem passt sich die demografische Entwicklung an: Die Bevölkerung konzentriert sich auf die Haupttäler – Seitentäler entvölkern sich.

Gibt es Alternativen zu dieser Entwicklung? Werner Bätzing, Professor für Kulturgeografie an der Universität Erlangen, ist davon überzeugt. Doch auch er muss zugeben, dass die negativen strukturellen Veränderungen in den letzten Jahren viel stärker waren als die positiven Impulse.

Die Verantwortung der städtischen Zentren

«Es ist notwendig, dass sich die Städte und urbanen Gebiete in den Alpen ihrer Verantwortung gegenüber der alpinen Umwelt bewusst sind und sich nicht nur nach den Metropolen ausrichten», sagt Bätzing. «Sie müssten untereinander viel stärker zusammenarbeiten.»

Es gibt Initiativen in diese Richtung. So bei der «Alpenstadt des Jahres». Dieser Titel wird jedes Jahr einem Ort verliehen, der sich um Projekte bemüht, welche die alpine Identität stärken.

2003 bekam erstmals eine Schweizer Stadt die Auszeichnung: Herisau im Kanton Appenzell Ausserrhoden. «Ein zentraler Punkt dabei war, dass die Stadt viel unternimmt, um die Beziehungen zum Umland zu stärken», erklärt Bätzing.

Als ein anderes Beispiel dafür, wie sich Alpenstädte ihrer Identität bewusst sind, gilt die gemeinsame Arbeitsgruppe, die 1988 ins Leben gerufen wurde und an der 26 Städte mitmachen (von der Schweiz Bellinzona, Locarno und St. Moritz).

«Aber es gibt leider auch negative Bespiele», so Werner Bätzing weiter. «So haben im Jahr 2000 die Kantone Graubünden und Glarus beschlossen, ihre Zusammenarbeit mit Zürich zu verstärken. Sie haben sich damit in gewisser Weise abgewandt von den benachbarten Alpenregionen.

Strategien gegen Abwanderung

Um die Entvölkerung in den betroffenen Gebieten zu stoppen, seien regelmässig dezentrale Impulse für Wirtschaft und Kultur nötig, «damit die Alpen ihren Wirtschafts- und Lebensraum bewahren können».

Eine Rückkehr ins 19. Jahrhundert mit der weit höheren Bevölkerungsdichte in den Alpen sei jedoch Utopie. «Ich wäre bereits zufrieden, wenn wir den Bevölkerungsschwund stoppen könnten», erklärt Bätzing.

Auch von touristischer Seite her sieht der Experte Perspektiven, die man weiter verfolgen sollte. So zum Beispiel das Projekt der «Via Alpina», das ein Netz von Fusswegen, die den inneren Alpenbogen durchquerten, wieder aufleben lassen will. «Es ist ein gutes Beispiel, wie man einen sozial- und umweltverträglichen Tourismus fördern kann – mit dezentralen Strukturen, aber dennoch den ganzen Alpenbogen umfassend.»

Bätzing appelliert auch an die Architekten. Seiner Ansicht nach könnte eine entsprechende Bauweise mithelfen, die Identität der Besiedelung zu bewahren und die Zerstückelung zu verhindern.

Auch dazu gibt es positive Beispiele. So etwa die Ortschaft Vrin im Kanton Graubünden. Das Dorf ist bekannt für die Arbeiten des Architekten Gion A. Caminada, der traditionelle Bauweise und modernes Wohnen erfolgreich zusammen führte.

Trotz positiver Ansätze: Was im Alpenraum fehlt, ist eine Koordination der verschiedenen Initiativen über alle Landesgrenzen hinweg. «Es ist absolut wichtig, dass sich die verschiedenen Initiativen untereinander vernetzen. Nur so können sie einander unterstützen.»

swissinfo, Andrea Tognina
(Übertragung aus dem Italienischen: Eva Herrmann)

Werner Bätzing, Professor für Kulturgeografie in Erlangen, Deutschland, ist einer der Kenner der historischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung der Alpen.

In seiner kürzlich erschienenen Publikation «Die Alpen. Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft» (München, Beck, 2003) berichtet er über seine langjährigen Forschungen.

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