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Berge als Götter-Thron, Alpen als trendige Marke

Prozession der Herrgotts-Grenadiere an Fronleichnam in Kippel im Lötschental (Wallis). Keystone

Heilige Berge gibt es im Himalaja, in Afrika, den Anden, Japan oder dem Nahen Osten. In den Alpen sind alte Sagen und neue Mythen beheimatet.

Eine Reise vom Kailash zum bündnerischen Ziteil, vom Buddhismus bis zu «Heidi».

Kailash, Chomolungma (Mount Everest) und Nanda Devi im Himalaja, Fuji in Japan, Kilimandscharo in Ostafrika, Illimani und Ausangate in den Anden, Uluru (Ayers Rock) in Australien oder auch der griechische Olymp, um nur einige zu nennen: Geht es um heilige Berge, ist Erwin Grötzbach die Kapazität. Der emeritierte Professor der katholischen Universität Eichstätt in Deutschland hat die «säkularisierten Naturphänomene» rund um den Erdball bereist und studiert.

«Heilige Berge sind Bereiche des Reinen und Göttlichen und befinden sich oberhalb des menschlichen Siedlungsraumes, entrückt den menschlichen Einflüssen», sagte Grötzbach in einem Vortrag in Bern, den er anlässlich des 54. Deutschen Geographentages hielt.

Brücke zwischen Himmel und Erde

In «naturnahen Religionen» wie dem Buddhismus in Asien oder dem Glauben der Indios in den Anden seien die als heilig verehrten Berge kosmische Brücke und Mitte zwischen Himmel und Erde, Sitze von Göttern und Dämonen sowie der Ahnen.

«Die Berge sind zudem Spender von Wasser und Fruchtbarkeit», so der Professor weiter. Sie wachten so über das Wohlergehen von Menschen und Tieren und bestimmten, ob die Ernten reich oder mager ausfielen.

Dass die Verehrung von Bergen nicht ewig dauert, dafür steht der Kilimandscharo in Tansania, dessen Heiligkeit laut Grötzbach bei der einheimischen Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten erloschen sei.

In den Alpen unbekannt

Heilige Berge gibt es weder in der Schweiz noch einem der anderen sechs Alpenländer. «Im Christentum wird der Berg als solcher nicht verehrt», erklärt der Experte. Denn in den monotheistischen «naturfernen» Religionen wie dem Christentum gelte die entsakralisierte Natur als Schöpfung Gottes.

In den Alpen gebe es dagegen zahlreiche von Menschen geschaffene «sakrale Kultstätten». Dazu rechnet Grötzbach Kirchen, Kapellen, Klöster, Einsiedeleien und im weitesten Sinne auch die Hospize und Kapellen auf den Passhöhen.

Prozessionen lebendig bis heute

Aus vorchristlicher Zeit datieren sowohl in den Alpen als auch in anderen Gebirgen «heidnische» Bergheiligtümer, meist in Form markanter Felsen und Steinen, Quellen, Seen, Höhlen und Bäumen.

Bis heute erhalten haben sich in den heimischen Alpen Prozessionen und Pilgerfahrten, sehr oft zu Marien-Heiligtümern. Das Kirchlein Ziteil im bündnerischen Oberhalbstein, zu dem Gläubige zweimal jährlich pilgern, ist mit 2433 Metern über Meer der höchstgelegen Wallfahrtsort Europas.

Alpsagen



In naturnahen Religionen sind die Mythen oben auf dem Gipfel angesiedelt, dort, wo Himmel und Erde sich berühren. Im Alpenraum dagegen sind von Sennen bewirtschaftete Alpen Schauplatz tradierter Mythen, meist in Form von Sagen. Fabelwesen wie kleine Wildleute oder verwunschene Gestalten begegnen darin den Sennerinnen und Sennen, beschenken sie bei Wohlverhalten und strafen bei Verfehlungen.

Moderne Mythen aus dem «Design-Studio»

Das heutige Bild der Alpen aber ist geprägt durch junge, kreierte Mythen. Entscheidend zum aktuellen Bild der Alpen trug «Heidi» bei. Mit der hochmoralischen Erzählung von Johanna Spyri hatte das Image der Schweizer Alpen als Quell von Naturschönheit, Urtümlichkeit und Gesundheit die Reise rund um den Globus angetreten.

Transitverkehr, Elektrizitätswirtschaft (Wasserkraft), Tourismus- und Freizeitindustrie sowie Bemühungen zum Schutz des Alpenraumes vermochten diesen Mythos anzukratzen, aber nicht zu überwinden. Im Gegenteil. «Verkehrsströme und Tourismus in den Alpen sind generiert durch diese Mythen», sagte Doris Wastl-Walter, Professorin für Sozialgeographie, Politische Geographie und Gender Studies an der Universität Bern, gegenüber swissinfo.

Japaner wollen «Kalender-Schweiz» sehen

«Die Handlungen der Menschen werden bestimmt durch Mythen und entsprechen Bildern und Vorstellungen.» Japanische Touristen, illustriert sie, besässen ganz klare Bilder der Alpen. Der obligate Ausflug auf das Jungfraujoch sei das Resultat dieser Bilder.

Solche könnten sich auch verändern, fährt Wastl-Walter fort. Der Boom bezüglich Bau von Bergbahnen in den 60er Jahren habe dem Bedürfnis der Touristen entsprochen, möglichst schnell auf einen Gipfel zu gelangen. Heute sei wieder das Bild der «intakten Bergwelt» gefragt.

Bilder je nach Nutzung

Bergbewohner, Touristen und Transitreisende hätten unterschiedliche Bilder der Alpen, die von der jeweiligen Nutzung des Raumes abhängig seien, so Wastl-Walter weiter. «Bei den Bergbewohnern ist ein Prozess der Aufwertung des Regionalspezifischen festzustellen.»

Elisabeth Bäschlin, Lektorin an der Abteilung für Sozialgeographie, Politische Geographie und Gender Studies an der Universität Bern, erwähnt das «Gstaader Frühstück» als Beispiel für die Wiederentdeckung des «Lokalspezifischen» in Bergregionen.

Ökologie als Image-Träger

«Über die Vermarktung ökologischer Produkte kann das ‹heile-Welt›-Image sehr gut verkauft werden», sagt die Professorin. Eine solche Vermarktung stärkt laut Bäschlin Identität und Wirtschaft einer Bergregion.

Sie deutet das Bild derartig heiler Bergwelt positiv, weil viele Menschen aus den Städten, gerade auch Frauen, von Lebensweise und Arbeit auf der Alp angezogen seien. «Ohne Städterinnen und Städter könnten viele der hochgelegensten Alpen gar nicht mehr bewirtschaftet werden.» Und gerade diese seien für das ökologische Gefüge in den Bergen sehr wichtig, unterstreicht Bäschlin.

Angriffsfläche für Ideologie

Zum Bild der heilen Bergwelt gehört häufig auch Ideologie. So idealisierte der Schweizerische Bauernverband laut Bäschlin während des Zweiten Weltkrieges die Bergbäuerin. Als «Vor-Bild» an Arbeitsamkeit, dem Umgang mit knappen Ressourcen und Anlegen von Vorräten sei sie zum Idealtypus aller Schweizer Frauen erhoben worden.

Wastl-Walter und Bäschlin betrachten es als Aufgabe der Wissenschaft und besonders der Geographie, Mythenbildung zu hinterfragen. «Wer hat die Möglichkeit, Mythen zu kreieren, und welche Interessen stehen dahinter?», lautet ihr Ansatz. Hier sei die Zunft gefordert, indem Geographinnen und Geographen Entscheidgrundlagen und allenfalls Gegenentwürfe lieferten.

Wastl-Walter verdeutlicht den Ansatz anhand der umstrittenen Nationalpark-Erweiterung, bei der es um die Vergrösserung des Schutzgebietes im Kanton Graubünden geht: «Wer soll darüber entscheiden? Die lokale Bevölkerung oder die Touristen, welche einmal im Jahr durchfahren und ‹ihr› Bild der Alpen sehen wollen?»

swissinfo, Renat Künzi

Berggebiete verfügen über eine sehr grosse biologische Vielfalt.
2002 war das UNO-Jahr der Berge.
Der Grundstein dafür wurde am Umweltgipfel von Rio 1992 gelegt.
Die Schweiz ratifizierte 1999 die Alpenkonvention.
Das Parlament hat die Ausführungs-Protokolle noch nicht ratifiziert.

Naturnahe Religionen kennen heilige Berge.
Sie sind Sitz des Göttlichen und Reinen.
Im Christentum gibt es keine heilligen Berge.
In den Alpen gibt es Prozessionen und Pilgerfahrten.
In den Alpen sind Sagen verbreitet.
Der heutige Alpen-Mythos wurde vom Buch «Heidi» von Johanna Spyri zementiert.

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