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Das bröckelnde Sowjet-Erbe

Balykchy steht in Kirgisistan als Synonym für Zerfall und Trostlosigkeit. swissinfo.ch

Wo früher Güter für die ganze UdSSR produziert wurden, rotten heute die Fabriken vor sich hin. Die Menschen haben keine Aussicht auf eine bessere Zukunft und trauern den alten Zeiten nach.

Ein Augenschein in Balykchy, am Ufer des Yssykul-Sees, im Westen Kirgisistans.

Die rund 45’000 Einwohnerinnen und Einwohner von Balykchy kämpfen ums Überleben. Ihre Stadt besteht fast nur noch aus bröckelndem Beton weiträumiger Fabriken und zerfallenden, wuchtigen Silos. Der Bahnhof steht verloren etwas ausserhalb des Zentrums; es fahren keine Züge mehr.

Während der Sowjet-Zeit war der Ort bekannt für seine Werften und die Fischerei-Industrie. Güter wurden von dort in die ganze Sowjetunion verschifft. Aber nach der Unabhängigkeit Kirgisistans im Jahre 1991 standen immer mehr Fabriken still, wurden ausgeschlachtet und rotten seither vor sich hin.

Harte Jahre nach der Unabhängigkeit

«Zu Sowjet-Zeiten war es besser», sagt Sadko Satarov. «Alles war kraftvoll und hatte seine Ordnung.» Diese Meinung ist in Zentralasien stark verbreitet. Die Menschen leiden seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion unter der Transition zur freien Marktwirtschaft.

Von 1991 bis 1996 brach das kirgisische Bruttoinlandprodukt auf die Hälfte ein, die neue Währung wurde von Hyperinflation gebeutelt, die Arbeitslosigkeit stieg massiv an. Am meisten litt die kirgisische Bevölkerung, knapp fünf Millionen Menschen, die sich gewohnt waren, dass sich der Staat um alles kümmerte – vom Gesundheitswesen, der Bildung und dem Arbeitsplatz hin zur Altersrente.

Total-Ausverkauf

Satarov, in seinen späten Sechzigern, arbeitet als Wachmann in der verfallenden Fabrik, wo er früher Gabelstapler fuhr. «Ich hatte eine ziemlich gute Position inne», erinnert er sich, «aber jetzt, jetzt bin ich gar nichts mehr.»

Die Fabrik wurde 1993 geschlossen, 1500 Arbeiterinnen und Arbeiter wurden auf die Strasse gestellt. Sie hatten in drei Schichten pro Tag Bleistifte hergestellt.

Vor einem Jahr wurden die Maschinen an einen türkischen Unternehmer verkauft. «Wir wissen nicht, wohin das Geld geflossen ist», sagt der Arbeiter. «Es ist absolut nichts mehr in der Fabrik. Es sieht aus, wie in einem Konzentrationslager aus dem Zweiten Weltkrieg.»

«Bastarde um den Präsidenten»

Hinein dürfen die Journalisten trotzdem nicht. Schliesslich sollen hier auch geheime Produkte für die Rote Armee produziert worden sein. Das Gespräch findet durch das verschlossene Eisengitter des Haupttores statt.

Satarov beschuldigt korrupte Beamte für den Ausverkauf, der die Arbeiter ohne Existenz-Grundlage zurück liess. «Ich muss zuschauen, wie meine Heimat zerstört wird», klagt er. «Unser Präsident, Askar Akyev, ist ein intelligenter Mann, aber die Funktionäre um ihn herum sind Bastarde!»

LKW-Fahrer, Wodka und Prostituierte

Mit ihrer Industrie in Trümmern kann die Stadt nur wenig bieten. Die meisten Einwohnerinnen und Einwohner haben keine Aussicht auf eine richtige Arbeit. Die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 70%.

Ein Reiseführer beschreibt den Ort als Stadt von Lastwagen-Fahrern, Wodka und Prostituierten. Der Augenschein bestätigt diese trostlose Einschätzung.

Die einzige Hoffnung liegt bei der einzigartigen Natur und der anhaltenden Popularität des Ortes als Sommer-Kurort. Umgeben von schneebedeckten Bergen, welche die Grenze zu China bilden, und dem Yssykul-See, der zehnmal grösser ist als der Bodensee, zählt die Region auf den Tourismus.

Ein See als Juwel Zentralasiens

Der Ort galt zu Sowjetzeiten als eines der bekanntesten Erholungsgebiete. Hier entspannten sich Arbeiter und Würdenträger aus der ganzen UdSSR. Kirgisen bezeichnen den See liebevoll als Juwel Zentralasiens.

Dessen Popularität ist ungebrochen. Besucher schätzen das warme Wetter, die Sandstrände und das klare Wasser. Der ehemalige Armee-Flughafen wurde ausgebaut, damit Charter-Maschinen aus Russland und Kasachstan landen können.

Trotzdem genügen die Sommertouristen nicht, um die ganze Stadt zu beschäftigen und durch den kalten Winter zu bringen.

«Was wir hier brauchen sind Investitionen», sagt Satarov. «Es müsste möglich sein, hier wieder eine Produktion aufzubauen», hofft er. «Arbeitskräfte gäbe es genug.»

swissinfo, Jacob Greber und Philippe Kropf, Balykchy

Kirgisistan
Einkommen pro Kopf und Jahr: 290 USD
Arbeitslosigkeit: 7.8%
Unterbeschäftigung: ca. 70%
Über die Hälfte der Beschäftigten im primären Sektor

Balykchy ist eine trostlose Industriestadt im Westen Kirgisistans, am Ufer des Yssikul-Sees. Früher wurde hier für die ganze UdSSR produziert. Der Kurort galt als einer der bekanntesten Bade-Orte.

Nach der Unabhängigkeit 1991 wurden die meisten Fabriken geschlossen und ausverkauft. Sie rotten heute nur noch vor sich hin.

Von den 45’000 Einwohnerinnen und Einwohnern sind 70% arbeitslos oder unterbeschäftigt.

Augenfällig sind die vielen Schlaglöcher, der Alkohol-Konsum und die Prostitution.

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