Das lange Warten auf das Unesco-Welterbe
Ende Juni schliesslich war es soweit: Die Unesco-Welterbekommission entschied am 27. Juni, dass die Uhrenstädte La Chaux-de-Fonds und Le Locle auf die Weltkultur-Liste kommen. Das Warten auf den Entscheid war lang, die Freude darüber ist gross.
«Morgen Abend um 18 Uhr starten wir das Fest, egal, ob die in Sevilla bis dann entschieden haben», sagte am Freitag, den 26. Juni, Festorganisator Bernard Vaucher. Denn das Unesco-Komitee tagte in Sevilla, und hatte den Entscheid pro oder kontra Uhrenstädte für Freitag oder Samstag in Aussicht gestellt.
Samstagnachmittag: «Diese Experten ticken im Schneckentempo», spottet Louis, ein älterer Uhrmacher im Bistro auf dem Marktplatz von La Chaux-de-Fonds. «Hast Du die Kirchenglocken schon läuten gehört, zur Feier des Tages?», fragt einer der Weisswein trinkenden Männer am runden Tisch.
«Vor zwei Stunden haben sie gebimmelt, aber das war nicht wegen diesen Experten, das war für eine Hochzeit.» – «Oder für eine Scheidung», scherzt die einzige Frau am Tisch.
Sie habe sich vor bald 20 Jahren in einen Eishockey-Spieler aus der Gegend verliebt, erzählt eine Französin. «Darum wohne ich hier. Am Anfang fand ich die Stadt hässlich und langweilig. Jetzt gefällt es mir.»
La Chaux-de-Fonds hat keine malerische Altstadt, keine schicken Kleiderboutiquen. Das Klima ist rau. Die architektonische Qualität zeigt sich frühestens beim zweiten Blick. Dafür sind Wohnungen billiger als anderswo. Die Winter sind nebelfrei und das kulturelle Angebot muss sich nicht vor demjenigen grösserer Städte verstecken.
Rivalitäten mit Neuenburg
«Als ich von La Chaux-de-Fonds zum Studium nach Neuenburg kam, fühlte ich mich wie im Süden. Ich hätte mir damals nicht vorstellen können, dass meine Heimatstadt einmal Weltkulturerbe wird», erzählt der ehemalige Nationalrat Claude Frey, der seit Jahrzehnten in Neuenburg lebt.
Neuenburg ist aristokratisch geprägt, liegt am See, hat eine schmucke Altstadt. Darüber thront das Schloss der Regierung, La Chaux-de-Fonds hat eine linke und anarchistische Tradition. «Seit Jahrhunderten gibt es Rivalitäten», sagt Frey.
So haben die beiden Städte trotz Bemühungen der Kantonsregierung für eine effizientere Spitalplanung und obschon sie keine 20 Kilometer Entfernung trennt, immer noch eine eigene Geburtsabteilung. Die Idee, die Fussball- und Eishockeyclubs zu fusionieren, ist gescheitert.
Pünktliche Uhrenregion
Nun also soll Aschenputtel ins renommierte Weltkulturerbe aufgenommen werden. Es ist Samstagabend 18 Uhr. Der Platz hat sich mit Menschen gefüllt. Sie sitzen oder stehen da und warten. Die Würste sind auf dem Feuer, die Stadtmusik spielt «Black or White» von Michael Jackson.
In Sevilla sei noch kein Entscheid gefallen, sagt der zuständige Gemeinderat und bittet um Geduld. Den von der Stadt offerierten Ehrenwein bezeichnet er als «Hoffnungswein».
18.45: «Vor zwei Minuten haben die Experten der Unesco mit den Beratungen über unsere Kandidatur begonnen», sagt der Sprecher. Die Leute warten geduldig. Krawatte trägt keiner, die Stimmung ist locker und freundschaftlich.
19.00: Zwei Sportflugzeuge überfliegen den Platz, zeigen Kunststücke. Sie sind auf dem Flugplatz vor der Stadt gestartet. «Die sind pünktlich, denn sie kommen aus einer Uhrenregion in den Bergen», sagt ein Zuschauer, der genug hat vom Warten.
Am Freitag hat eine Kunstflug-Staffel der Armee die beiden Städte mit einem Überflug beehrt. Sie war auf dem Weg an ein Flugmeeting in Frankreich und konnte nicht auf den Entscheid der Unesco warten.
Japaner, aber keine Neuenburger
19.15: Die Experten haben entschieden. Freude herrscht. Es beginnt zu regnen. Regenschirme spannen sich über die Tische. Die Kinder werden mit Ballons ausgestattet. Jetzt sind sie dran mit Warten, denn alle Ballons sollen zusammen aufsteigen. Die ersten Ballons fliegen dennoch in die Luft. Das Fest beginnt.
Louis sitzt noch immer am runden Tisch. «Es ist schön, wir sind stolz auf die Auszeichnung» sagt er und hebt das Glas. «Ich hoffe, dass es unseren Uhrenateliers etwas bringt, in der Krise. Jetzt werden mehr Japaner zu uns kommen, aber für die Neuenburger bleiben wir das hinterste Loch der Welt.»
Andreas Keiser, La Chaux-de-Fonds, swissinfo.ch
La Chaux-de-Fonds ist mit knapp 40’000 Einwohnern nach Genf, Lausanne und Biel-Bienne die viertgrösste Stadt der Westschweiz.
Le Locle hat knapp 11’000 Einwohner und ist die drittgrösste Stadt im Kanton Neuenburg.
Die beiden in einem Hochtal auf 1000 Meter gelegenen Uhrmacher- und Mikrotechnik-Städte sind als Zeitzeugen der Industrialisierung ins Unesco-Kulturerbe aufgenommen worden.
1794 verwüstete ein Grossbrand das Uhrmacher-Dorf La Chaux-de- Fonds. Der Ingenieur Charles-Henri Junod verwirklichte mit seinem Wiederaufbauplan seine Vision einer Stadt der Zukunft.
Die Häuserreihen sind einem rechtwinkligen Raster angelegt. Die Strassen sind breit, vor vielen Häusern hat es Gärten. Das bringt Licht in die Uhren-Ateliers, schützt vor Übergriffen des Feuers und erleichtert die Schneeräumung.
Le Locle wurde von mehreren Grossbränden heimgesucht. Nach dem Brand von 1833 wurde Stadt nach dem Vorbild von La Chaux-de-Fonds in einem – wegen der hügeligen Topographie weniger stringenten – Raster wieder aufgebaut.
1994 wurde La Chaux-de-Fonds für den behutsamen Umgang mit dem architektonischen Erbe mit dem Wakkerpreis des Schweizer Heimatschutzes ausgezeichnet.
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