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Dauerbrenner Alphabetisierung

Elisabeth Derisiotis fordert die Politiker auf, endlich zu handeln. E. Derisiotis

Der 8. September erinnert daran, dass weltweit Millionen von Menschen nicht richtig lesen und schreiben können. In der Schweiz sind es 500'000.

Im Gespräch mit swissinfo fordert Elisabeth Derisiotis, Präsidentin von «Lesen und Schreiben», mehr Mittel, um das Illettrismus-Phänomen zu bekämpfen.

Rund 860 Millionen Menschen auf der Welt können gar nicht oder nur ungenügend lesen und schreiben. Das ist ein Fünftel der Weltbevölkerung.

Auch in der Schweiz leben rund eine halbe Million funktionale Analphabeten, Menschen, die grosse Mühe mit Lesen und Schreiben haben, so genannte Illettristen.

Am Weltalphabetisierungs-Tag werden in der Schweiz 100’000 Flugblätter in drei Landessprachen möglichst flächendeckend verteilt, um auf die Problematik hinzuweisen. Laut Elisabeth Derisiotis, Präsidentin des Vereins Lesen und Schreiben der deutschen Schweiz, wird gleichzeitig Buchstabensuppe offeriert – als Symbol der Alphabetisierung.

swissinfo: Können Sie kurz beschreiben, welche Art von Problemen ein funktionaler Analphabet hat?

Elisabeth Derisiotis: Für solche Personen ist es schwierig, den Alltag zu bewältigen: Sie haben Probleme Formulare auszufüllen, Automaten zu betätigen, Packungen in den Läden zu entziffern. Hinzu kommen Probleme im beruflichen Alltag, bei der Aufgabenhilfe für die eigenen Kinder.

swissinfo: Gemäss Studien leidet rund jede sechste Person in der Schweiz an Lese- und Schreibschwäche, aber Analphabeten haben wir keine, ist das richtig?

E.D.: Das kann man so nicht sagen, denn die Migration hat uns natürlich auch wirkliche Analphabeten gebracht. Für sie ist unser Verein aber nicht zuständig, da gibt es spezielle Programme.

swissinfo: Wer ist verantwortlich für das Illettrismus-Phänomen?

E.D.: Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das vermutlich nicht rechtzeitig erkannt wurde und weiterschlummert. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten kann es sich allenfalls noch verschärfen.

Unter den Betroffenen gibt es schreckliche Biografien, auch Leute, die von einer Schule in die andere geschoben wurden. Beim grössten Teil handelt es sich aber um Personen, die in der Schule durch die Maschen gefallen sind oder die Fähigkeiten später verlernt haben.

Ich habe gefordert, dass unsere Erkenntnisse stärker in die Lehrerbildung einfliessen, damit Lehrer wissen, was Illettrismus ist. Meine Forderung wurde jedoch nicht aufgenommen.

swissinfo: Hat die Politik das Problem noch zu wenig erkannt?

E.D.: Es ist erkannt, aber niemand kümmert sich wirklich darum. Es wird eindeutig zu wenig getan. Ohne die nötigen Finanzen kann man aber weder Prävention noch Bekämpfung betreiben, noch sensibilisieren oder koordinieren. Die Politik sollte endlich Mittel sprechen.

Die Illettrismus-Bekämpfung ist eine schwierige Kleinarbeit, die nicht sehr attraktiv ist und kaum honoriert wird. Deshalb geht es nicht vorwärts.

swissinfo: Wie erreicht «Lesen und Schreiben» seine Kundschaft?

E.D.: Das ist unser Hauptproblem. Angesichts der vielen potentiellen Kundinnen und Kunden können wir nur einen winzigen Teil der Betroffenen erreichen: Durch kleinere Sensibilisierungs-Kampagnen, Öffentlichkeitsarbeit, Statements von Betroffenen an Radio und TV.

In der Deutschschweiz kommen knapp 1000 Personen zu uns, rund 800 sind es in der Romandie und noch weniger im Tessin.

Oft kommen die Personen nicht selber, sondern werden durch Leute aus ihrem privaten Umfeld angemeldet. Wir müssten viel mehr Öffentlichkeitsarbeit machen können.

swissinfo: Sind es vor allem Leute aus unteren Schichten, die zu ihnen kommen?

E.D.: Die Leute kommen sicher eher aus bildungsferneren Schichten, aber nicht nur. Es sind auch Menschen, die im Verlauf des Lebens Lesen und Schreiben verlernt haben.

Auch wenn die Frauen von Illettrismus stärker betroffen sind, kommen sie nicht häufiger an unsere Kurse. Wir haben eine gute Durchmischung von Frauen und Männern. Das heisst, wir erreichen die Frauen noch weniger gut als die Männer.

swissinfo: Lesen und Schreiben für Erwachsene gibt es seit 20 Jahren. Was hat sich in dieser Zeit verändert?

E.D.: Eigentlich muss man von Stagnation reden, denn die Zahlen sind mehr oder weniger gleich geblieben. Vielleicht ist das Problem ein bisschen mehr ins Bewusstsein gerückt. Bei den Erwachsenen berührt das Thema weniger, man stellt es in die Ecke der Selbstverantwortung.

Die PISA-Studie hingegen, die mangelnde Sprachkompetenzen bei Kindern und Jugendlichen aufzeigt, hat eine grosse Welle ausgelöst, man kümmert sich generell wieder mehr um dieses Problem, was auch für uns günstig ist.

swissinfo: Werten Sie es als positiv, dass heutzutage vermehrt Studien erstellt werden?

E.D.: Wenn man sich damit begnügt, nur Studien zu machen und dann jahrelang wartet, bis die Resultate dieser Studien herauskommen, die eigentlich wieder dasselbe sagen wie die Vorstudien, werde ich eher ungeduldig.

Es muss endlich gehandelt werden: Politik und Wirtschaft müssen in die Verantwortung genommen werden. Mein Bedürfnis an Studien ist nicht mehr sehr gross. Eine Verlagerung der Gelder würde ich begrüssen.

swissinfo: Die Betroffenen fühlen oft Scham und kaschieren ihr Problem. Wie kann man dieses psychologische Tabu durchbrechen?

E.D.: Man muss das Problem direkt ansprechen. Wenn sich Personen melden, darf man nicht lange um den Brei herumreden, sondern muss die Sache pragmatisch und nicht allzu behutsam angehen.

swissinfo-Interview: Gaby Ochsenbein

Der Weltalphabetisierungs-Tag vom 8. September macht darauf aufmerksam, dass weltweit rund 860 Millionen Erwachsene nicht lesen und schreiben können. Das ist ein Fünftel der erwachsenen Bevölkerung der Welt.
Auch in der Schweiz leben rund 500’000 Erwachsene, die nicht richtig lesen und schreiben können. Sie werden Illettristen oder funktionale Analphabeten genannt.
Im Gegensatz zum Analphabeten, der nie oder kaum zur Schule gegangen ist, hat ein funktionaler Analphabet in der Regel die obligatorische Schulzeit absolviert.

Das Lernfestival 05 (1. – 11. September) widmet sich am Weltalphabetisierungs-Tag vom 8. September dem Thema «Alphabetisierung – Illettrismus».

An diesem Tag organisiert der Dachverband Lesen und Schreiben zusammen mit dem Schweizerischen Verband für Weiterbildung (SVEB) eine schweizweite Aktion zur Sensibilisierung der breiten Bevölkerung.

Unterstützt wird die Aktion von der Schweizerischen UNESCO-Kommission, vom Bundesamt für Kultur sowie dem Forum Weiterbildung.

Der Dachverband Lesen und Schreiben für Erwachsene deutsche Schweiz wurde am 07.05.1985 gegründet.

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