Dem Bildungsland Schweiz gehen die Fachkräfte aus
Mit der Schweizer Wirtschaft geht's aufwärts, die Unternehmen fahren die Produktion hoch. Doch der "Rohstoff" gut qualifizierte Fachkräfte ist knapp.
Abhilfe bringt der «Import». Auch müssen ältere Mitarbeiter, Frauen, Secondos und Menschen mit Handicap länger oder stärker in den Arbeitsprozess eingebunden werden.
Adrian Kohler und die Ricola AG reiten auf einer Welle des Erfolgs: Immer mehr Menschen in immer mehr Ländern lieben die Bonbons aus natürlichen Schweizer Kräutern.
So international der Absatz ist: Das Familienunternehmen aus Laufen bleibt dem Produktionsstandort Schweiz treu. Letzten Herbst eröffnete Ricola am Firmensitz im Baselbieter Jura ein neues Produktionswerk.
Doch Ricola hat ein Problem: «Wir finden in der Schweiz nicht mehr genügend qualifiziertes Personal», klagte Adrian Kohler jüngst im Gespräch mit swissinfo.
Fast die Hälfte klagt
Der Laufentaler Betrieb ist mit diesem Problem beileibe nicht allein. «Die anziehende Konjunktur trocknet den Markt für Fachkräfte aus, und das durchs Band in allen Sektoren», sagt Charles Bélaz, Chef des Arbeitsvermittlers Manpower Schweiz. Von rund 800 befragten Unternehmen hätten 48% Mühe mit der Rekrutierung von Fachkräften.
Besonders rar sind alle technischen Fachkräfte, insbesondere Ingenieure, Informatiker und Verfahrenstechniker. Aber auch Handwerker wie Maurer, Schweisser und Schreiner.
Von High-Tech bis Versicherungen
Betroffene Branchen sind Maschinen- und Elektroindustrie, Informatik, Bauwirtschaft, High- und Biotech-Bereich, dort insbesondere Nanowissenschaften und Mikroelektronik. Aber auch Pharma- und Chemieindustrie bis zu Banken und Versicherungen.
Manpower muss im Ausland nach gut qualifiziertem Personal Ausschau halten. Für den Bausektor etwa finde man in Deutschland noch genügend Facharbeiter, so Bélaz. «Im Finanzbereich aber haben wir auch international Mühe, weil die meisten Länder in Europa dieselben Probleme haben.»
Sich öffnende Schere
Diese werden laut Bélaz verschärft durch das Zusammentreffen von konjunkturellem Aufschwung und zunehmender Überalterung der Gesellschaft.
Das bedeutet sinkende Geburtenraten auf der einen und immer älter werdende Menschen auf der anderen Seite.
Auf den Arbeitsmarkt übertragen heisst dies, dass die Hochqualifizierten aus den geburtenstarken Jahrgängen (so genannte Baby-Boomers) in Rente gehen, während zu wenig Facharbeiter nachrücken.
Angebot sogar ausgebaut
Die Ursache des Mangels liegt für Spyros Arvanitis von der Konjunkturforschungsstelle KOF ETH nicht beim Ausbildungs-Angebot. «Im Gegenteil: Ab Mitte der 1990er-Jahre wurden mit dem Upgrading der Fachhochschulen wieder vermehrt Informatiker ausgebildet.»
Der Leiter des Bereichs Marktdynamik und Wettbewerb bei der KOF erinnert zudem an die Vorteile des dualen Bildungssystems der Schweiz, das auf den beiden Pfeilern praktische Lehre und Berufsschule steht. «In vielen Branchen, etwa dem Retail-Banking (Kleinkunden-Bankgeschäft), besteht das mittlere Kader fast ausschliesslich aus Personen ohne Fachhochschul-Abschluss», so Arvanitis.
Lehre aufwerten
Für Bélaz dagegen muss zumindest in einen Bereich der Angebotsseite mehr Bewegung kommen: In die Berufslehre. «Vor allem technische Lehren müssen wieder an Attraktivität gewinnen», fordert er. Zudem müssten kaufmännische Lehren von zu grossem administrativem Aufwand befreit werden.
Fachkräfte-Engpass hin oder her: Den Wirtschaftsstandort Schweiz sehen weder Bélaz noch Arvanitis in Gefahr. «Eine solche bestünde erst ab einem breit abgestützten Wachstum von 4%», sagt der KOF-Experte.
Die Lücken auf dem Arbeitsmarkt Schweiz könnten aber die wirtschaftliche Entwicklung bremsen, so Bélaz. Dies namentlich in den Sektoren Pharma, Hochtechnologie, Produktion und im Gesundheitswesen.
Zuwanderung reicht nicht
Spielraum, sprich Handlungsbedarf, besteht für Arvanitis einzig auf der Nachfrageseite. «Vom ‹Import› von Fachkräften hat die Schweizer Wirtschaft grossen Gebrauch gemacht», stellt er fest. Potenzial sieht der Rekrutierer am ehesten noch in Osteuropa.
In einem Strategiepapier machte Bélaz zusätzliches Potenzial aus. Seine drei Thesen, wie das Minus in den nächsten 10 bis 15 Jahren auszugleichen sei: Leute ab 50 müssen so lange wie möglich im Arbeitsprozess bleiben. Dann müssen Frauen Beruf und Familie besser vereinbaren können, dies mit Work-Life-Balance, (Teilzeitarbeit etc.). Schliesslich müssen Menschen mit einem Handicap wieder vermehrt in den Arbeitsprozess integiert werden.
Ausschluss gesellschaftspolitisch unerwünscht
Spyros Arvanitis denkt auch an junge Migrantinnen und Migranten, die so genannten Secondos. Bei deren Ausbildung müssten grössere Anstrengungen unternommen werden.
Eine Sicht, die nicht nur von der Wirtschaft, sondern auch vom Bundesamt für Migration (BFM), der Schweizer Einwanderungsbehörde, geteilt wird. Jährlich blieben 3000 ausländische Jugendliche ohne Ausbildung, heisst es im kürzlich vorgestellten Integrationsbericht. «In zehn Jahren sind das 30’000 Jugendliche ohne Ausbildung «, sorgte sich BFM-Chef Eduard Gnesa.
swissinfo, Renat Künzi
In einer Phase der anziehenden Konjunktur werden auf dem Arbeitsmarkt die Fachkräfte knapp.
Knapp die Hälfte aller Schweizer Unternehmen gab in einer Befragung an, es fehle an gut qualifiziertem Personal.
Betroffen sind technische Berufsgattungen in allen Branchen.
Zuwanderung und Aktivierung des Arbeitspotenzials in der Schweiz sind die Rezepte gegen den Engpass.
Im Fachkräfte-Mangel spiegeln sich aktuelle Diskussionen; Reformbedarf herrscht in folgenden Bereichen:
Überalterung/Sozialwerke: Streitfrage ist v.a. die Erhöhung des Rentenalters.
Frauen im Beruf: Sie müssen vermehrt eingebunden werden, was eine bessere Vereinbarkeit Beruf und Familie bedingt.
Lehrstellen-Mangel: Tausende jugendlicher Schulabgänger finden jährlich keine Lehrstelle. Die Unternehmen sind gefordert.
Integration: Junge Migranten müssen besser in die Gesellschaft integriert werden, auch dank besserer Ausbildung.
Arbeitslosigkeit: Die Zahl anspruchsvoller Stellen steigt, diejenige der Einfachjobs sinkt. Deswegen können Arbeitslose die Lücken an Fachkräften kaum füllen.
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