Der Hundertjährige, der sich aufmachte, mit der Wissenschaft Frieden zu stiften
Herwig Schopper gilt als Grossvater des Teilchenbeschleunigers in Genf. Der frühere Cern-Generaldirektor hat in seinem Leben vieles auf den Weg gebracht, auch ein Friedensprojekt im Nahen Osten. Wir haben ihn kurz vor seinem 100. Geburtstag zu Hause besucht.
Ende Februar fuhr ich nach Genf, um Herwig Schopper zu besuchen. Auf der Reise fragte ich mich ständig, welche der unzähligen Fragen, die ich vorbereitet hatte, ich nun wirklich stellen sollte. Die Wahl fiel mir schwer.
Das Interview fand einige Tage vor dem 100. Geburtstag statt, den der ehemalige Direktor des CernExterner Link, der europäischen Organisation für Kernforschung in Genf, feiern durfte.
Schopper ist fraglos eine Ausnahmeerscheinung. Wie viele Hundertjährige können erzählen, mit Staatsoberhäuptern und religiösen Führern gesprochen und einige der bedeutendsten Entdeckungen des 20. Jahrhunderts ermöglicht zu haben?
Wer kann schon davon berichten, Forschungseinrichtungen ins Leben gerufen zu haben, in denen Wissenschaftler:innen aus verfeindeten Ländern zusammenarbeiten?
Und wie viele Hundertjährige antworten auf eine E-Mail mit der Bitte, den Termin des Gesprächs möglichst bald zu bestätigen, da es nur noch wenige freie Zeitfenster in der Agenda gibt?
Es ist unmöglich, in einem kurzen Artikel alle Leistungen und Erfolge von Herwig SchopperExterner Link zu würdigen. Dafür braucht es ein Buch.
Ein solches ist vor kurzem in englischer Sprache bei Ringier erschienen: «Scientist and Diplomat in a Changing World».
Schopper hat es selbst gemeinsam mit James Gillies verfasst. Es kann als E-Book gratis heruntergeladen werden.
Das schwierigste Unterfangen beim Interview mit Schopper war es denn auch, einen Termin zu finden. Das lag sicherlich auch daran, dass der deutsche Physiker mit der Organisation eines Symposiums beschäftigt war. Dieses fand am Cern aus Anlass seines 100-jährigen Geburtstags statt.
Meine Sorgen vor dem Gespräch waren unnötig. Als ich schliesslich vor dem betagten Herrn Platz nahm, war mir sofort klar, dass das Interview von allein laufen würde. Er erzählte seine Geschichten lebhaft, seine Augen funkelten.
>> In diesem Video erzählt Herwig Schopper über das World Wide Web und seine Begegnungen mit Margaret Thatcher und Papst Johannes Paul II:
Das Cern: «Zwei Jobs für einen Lohn»
Herwig Schopper war von 1981 bis 1988 Generaldirektor des Cern, der Europäischen Organisation für Kernforschung in Genf. Es waren Jahre, in denen er die Abläufe dieses Leuchtturms der europäischen Forschung grundlegend veränderte.
Er war allein als Generaldirektor verantwortlich. Schon das war eine Veränderung: Zuvor war dieses Amt auf zwei Personen aufgeteilt. «Ich habe mich oft darüber beschwert, dass ich für ein Gehalt die Arbeit von zwei Generaldirektoren erledigen musste.»
Schopper gelang es, die undankbare Aufgabe zu bewältigen, das Finanzierungssystem des Cern grundlegend umzustrukturieren.
Die Zentrum erhielt ein festes Jahresbudget, während die Finanzierung einzelner Experimente und Forschungsaufträge den Mitgliedstaaten oblag.
Unter seiner Leitung wurde eines der ehrgeizigsten wissenschaftlichen Projekte aller Zeiten realisiert: Der Bau des 27 Kilometer langen kreisförmigen unterirdischen Tunnels, in dem der Large Electron-Positron Collider (LEP) und später der Large Hadron-Positron Collider (LHC) installiert werden sollten.
Es handelt sich um die leistungsstärksten Teilchenbeschleuniger der Welt. Das Projekt gehört zu den anspruchsvollsten wissenschaftlichen Erfindungen in der Geschichte der Menschheit.
Wissenschaftler:innen nutzen diesen riesigen Beschleuniger, um die Elementarteilchen, aus denen das Universum besteht, zu suchen und zu verstehen. Das letzte dieser Elementarteilchen, das mit dem LHC entdeckt wurde, war das Higgs-Boson im Jahr 2012.
Seine Kritik an Nobelpreis-Vorgaben
Welche Entdeckung oder Erfindung liegt ihm am meisten am Herzen? Er verweist auf ein Experiment, das bereits in Arbeit war, als er die Leitung des Cern übernahm.
Es handelte sich um den UA1-Detektor, der von dem Italiener Carlo Rubbia konzipiert worden war und zur Entdeckung der W- und Z-Bosonen führte. Deren Existenz wurde zuvor nur vermutet.
Schopper betont, «dass das internationale Experiment rund 200 Personen zusammenführte, nicht nur eine kleine Forschergruppe von einem Dutzend Personen, wie es früher in der Hochenergiephysik der Fall war».
Er erklärt, dass es sich bei den W- und Z-Bosonen um Teilchen handelt, die die so genannte schwache Kernwechselwirkung tragen, also Kräfte, die dem Standardmodell der Quantenphysik zugrunde liegen.
Es handelt sich um die wichtigsten Kräfte in der Natur. «Ohne sie gäbe es keine Energieerzeugung in der Sonne, wir hätten kein Sonnenlicht», sagt er.
Nur ein Jahr nach Veröffentlichung der Forschungsergebnisse erhielt Carlo Rubbia den Nobelpreis für Physik. Die Anerkennung teilte er sich mit dem niederländischen Physiker Simon van der Meer, dem Erfinder der Methode, die es ermöglicht hatte, eine ausreichende Anzahl von Kollisionen zum Nachweis dieser Teilchen zu generieren.
Als eine Delegation des Nobelkomitees mit Schopper Kontakt aufnahm, um ihn über die Entscheidung zu informieren, kam es zu einer langen Diskussion.
Seiner Meinung nach hätte der Preis die kollektive Leistung von Hunderten von Menschen, die an dem Experiment beteiligt waren, würdigen müssen. Das Testament von Alfred Nobel sieht jedoch vor, dass maximal drei Personen mit dem Preis geehrt werden.
Schopper ist der Ansicht, dass die Vorgaben für den Nobelpreis nicht mehr der Entwicklung der modernen Wissenschaft entsprechen: «Es ist heute nicht mehr zeitgemäss, einen so prestigeträchtigen Preis auf nur drei Personen zu beschränken. Denn nicht nur in der Teilchenphysik, sondern auch in anderen Wissenschaftsbereichen ist die Zusammenarbeit zwischen etlichen Forschern unerlässlich.»
Sesam öffne dich!
Zusammenarbeit – es ist ein Kernbegriff für Schopper und das Cern. Die Europäische Organisation für Kernforschung mit Sitz in Genf wurde 1954 gegründet, und diese Gründung basierte auf zwei Überzeugungen.
Erstens: Europa sollte einen herausragenden wissenschaftlichen Forschungsort erhalten, der den USA die Stirn bieten konnte. Zweitens: Das Cern sollte unterschiedliche Länder zur Zusammenarbeit bewegen. Und zwar Länder, die sich wenige Jahre zuvor noch im Krieg miteinander befanden.
«Wissenschaft für den Frieden, lautete das damalige Schlagwort», sagt Schopper.
Diese Tradition hat Schopper wie kaum ein anderer verinnerlicht. Nach seinem Ausscheiden aus der Leitung des Cern im Jahr 1988 arbeitete er weiter in einem Bereich, den man heute als «Wissenschaftsdiplomatie» bezeichnet.
«Ich wollte den Ruf und den Erfolg des Cern nutzen, um Länder zusammenzubringen und zur Zusammenarbeit zu bewegen.»
Seine erste Initiative wurde 2017 in Jordanien mit der Einweihung des SESAME-LaborsExterner Link verwirklicht. «Sesam ist ein Wort, das in Tausendundeiner Nacht Türen öffnet», sagt Schopper, der auf einem Namen bestand, der in verschiedenen Kulturen eine Bedeutung hat.
«Ich wollte kein Akronym wie Cern, denn niemand weiss, was Cern bedeutet», sagt er mit einem Lächeln.
Auch SESAME ist ein Akronym, dessen Bedeutung praktisch niemand kennt. SESAME ist die Abkürzung für Synchrotron-light for Experimental Science and Applications in the Middle East oder auf Deutsch für «Synchrotron-Licht für die experimentelle Wissenschaft und Anwendungen im Nahen Osten».
Dieses von der Unesco geförderte Labor und sein Teilchenbeschleuniger werden nach dem Modell des Cern betrieben, mit einem Leitungsgremium, in dem je zwei Delegierte aus den Mitgliedsländern einsitzen: ein Wissenschaftler und ein Regierungsvertreter.
Die Mitgliedsländer sind im Moment: Jordanien, Zypern, Ägypten, die Türkei, Pakistan, Iran, Israel und die Palästinensische Autonomiebehörde. Eine unglaubliche Liste.
Schopper sagt, dies sei die einzige Organisation, bei denen er Vertreter:innen Israels und des Irans an einem Tisch habe sitzen sehen. Friedlich erörterten sie gemeinsam Probleme.
Und er fügt an: «Ob Sie es glauben oder nicht, selbst in der derzeitig schwierigen Lage im Nahen Osten wird das SESAME weiter betrieben und es funktioniert. Die Zusammenarbeit ist friedlich.»
Ein physikalisches Friedensprojekt auf dem Balkan
Herwig Schopper hofft, dass ein ähnliches Projekt in der Balkanregion verwirklicht wird, einer Region, die nicht gerade für ihre gutnachbarschaftlichen Beziehungen bekannt ist.
Geplant ist ein Institut für nachhaltige technologische Forschung mit dem Namen SEEIISTExterner Link («South East European International Institute for Sustainable Technologies»).
So wie die Unesco für SESAME wollte Schopper eine internationale Organisation als Trägerschaft für diese Forschungszentrum im Balkan finden.
Er wandte sich an Bundesbern, angesichts seiner eigenen Erfahrungen in Genf und der langen Tradition des Multilateralismus der Schweiz – mit der Gründung von Organisationen wie dem Roten Kreuz.
Bei einem Mittagessen in Lugano im Jahr 2019 bat er Bundesrat Ignazio Cassis um Unterstützung. Dieser erklärte sich bereit, ihm unter die Arme zu greifen.
Die Diplomatie des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) setzte daraufhin Gespräche zwischen den Staaten der Balkanregion in Gang. Diese diplomatischen Anstrengungen könnten eines Tages zur Gründung des SEEIIST führen.
«Ein Konkurrenzprojekt des Cern zum Bau eines Teilchenbeschleunigers in Texas scheiterte, weil es mitten in der Wüste lag. Wer will schon in einer Wüste leben?»
Herwig Schopper
«Auch Physiker sind Menschen»
Die Wertschätzung Schoppers für die Schweiz und für Genf beschränkt sich nicht allein auf die diplomatischen Verdienste.
Die Bedeutung der Wahl von Genf als Standort für das Cern sei zum Zeitpunkt seiner Gründung unvorstellbar gewesen, sagt Schopper.
Die gute internationale Anbindung und die zentrale Lage von Genf seien grosse Vorteile. Dazu käme eine wunderbare Umgebung, der See und die Berge, ein kulturelles Angebot, aber auch der internationale Charakter der Stadt.
«Schliesslich sind Physiker auch Menschen mit Familien», sagt er. Und erinnert daran, dass es ein Konkurrenzprojekt zum Cern mit dem Bau eines Teilchenbeschleunigers in Texas gab. Doch es scheiterte: «Wer will schon in eine Wüste ziehen und dort leben?»
Das World Wide Web und Zukunftsprojekte
Diese Standortvorteile sind eines der Argumente, mit denen die amtierende Cern-Direktorin, die Italienerin Fabiola Gianotti, für den Bau des neuen Future Circular ColliderExterner Link (FCC) werben kann.
Es handelt es sich um einen gigantischen Teilchenbeschleuniger in einem 91 Kilometer langen unterirdischen und kreisförmigen Tunnel, in dem siebenmal höhere Kollisionsenergien als mit dem jetzigen Teilchenbeschleuniger LHC erreicht werden könnten.
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Schopper verfolgt die Entwicklung dieses Projekts aufmerksam, das ihn an die Hindernisse erinnert, die er selbst beim Bau des LEP in den 1980er-Jahren überwinden musste.
Die schwierigste Herausforderung sei es zu erklären, welchen Nutzen die Grundlagenforschung für die Gesellschaft habe. Denn oft dauere es Jahrzehnte, bis es konkrete Ergebnisse gebe oder sogar ein marktfähiges Produkt zur Verfügung stehe.
Schopper hat jedoch das perfekte Beispiel zur Hand, das den konkreten Nutzen aufzeigt: das World Wide Web.
Denn der Keim, aus dem das Internet entstand, geht zurück in die 1980er-Jahre, als es darum ging, die Arbeit des Cern zu erleichtern und Daten von Experimenten in einem Netzwerk effizienter an Universitäten in aller Welt zu übertragen.
Als der Begründer des World Wide Web, Tim Berners Lee, an Schopper herantrat, um ihm von seiner Erfindung zu erzählen und ein mögliches Patent im Namen des Cern zu beantragen, fragte der Direktor alle ihm bekannten Experten nach ihrer Meinung.
Die Antworten waren klar: «Alle meinten: Dieses Netzwerk ist nur für euch Physiker interessant.»
Es sollte ganz anders kommen. Er sagte Berners Lee, er können mit seiner Erfindung machen, was er wolle. «Am Ende ging er in die USA, wo sie klug genug waren, das World Wide Web zu vermarkten», so Schopper.
Die Schulbücher von morgen
Das scheint ihn nicht zu stören. Wichtig ist für den Hundertjährigen etwas anderes. Wobei sich zeigt, dass in seinen Adern immer noch das Feuer der wissenschaftlichen Forschung lodert: «Was würden wir unseren Kindern ohne Wissenschaft erzählen? Dass die Erde etwa 4000 Jahre alt ist und dass sich die Sonne um sie dreht und all diese Dinge», sagt er rhetorisch.
«Was am Cern in den letzten 50-60 Jahren gemacht wurde und heute gemacht wird, wird bald in den Schulen gelehrt werden.»
Editiert von Sabrina Weiss und Veronica DeVore, Übertragung aus dem Italienischen: Marc Leutenegger
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