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Der Verlust der Biodiversität in der Schweiz ‒ in sechs Grafiken

Ein Schmetterling auf einer Blüte
Die Situation der Insekten in der Schweiz (im Bild ein Schmetterling) ist „besorgniserregend“. Keystone

Das Bild der Schweiz mit einer unberührten und intakten Natur entspricht schon lange nicht mehr der Realität. Im Alpenland ist der Verlust an Biodiversität sogar höher als im weltweiten Durchschnitt. Mehr als ein Drittel der Tier- und Pflanzenarten sind bedroht. Wie lässt sich der Trend umkehren?

«Der Zustand der Biodiversität in der Schweiz ist unbefriedigend und die Artenvielfalt geht zurück»: Diese Aussage stammt nicht von Naturschutzorganisationen, sondern vom Bundesamt für UmweltExterner Link (Bafu).

Der Verlust der Biodiversität bedrohe die Existenzgrundlage der Menschen und die Wirtschaftsleistung des Landes, heisst es weiter.

Laut Bafu ist fast die Hälfe der LebensräumeExterner Link gefährdet. Von rund 11’000 in der Schweiz untersuchten Tier-, Pflanzen- und Pilzarten (von insgesamt rund 56’000 bekannten Arten) sind gemäss der Roten ListeExterner Link der International Union for Conservation of Nature (IUCN) 35 Prozent vom Aussterben bedroht.

Die von Natur- und Umweltorganisationen, darunter Pro Natura und BirdLife Schweiz, lancierte BiodiversitätsinitiativeExterner Link fordert mehr Flächen und finanzielle Mittel für die Biodiversität in der Schweiz. Die Schweizer Stimmbevölkerung wird am 22. September 2024 über die Volksinitiative entscheiden.

Amphibien und Reptilien sind die am stärksten gefährdeten Wirbeltierklassen. Bei einigen Organismengruppen wie Vögeln, Fischen und Gefässpflanzen habe sich die Bedrohungssituation in den letzten 10 bis 20 Jahren verschärft, heisst es in dem vom Bafu veröffentlichten Biodiversitätsbericht Schweiz 2023Externer Link.

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Auch bei den Insekten wird die Situation gemäss einem Bericht zur Insektenvielfalt in der SchweizExterner Link als „besorgniserregend“ eingestuft.

Im internationalen Vergleich erscheint die Biodiversitätskrise in der Schweiz noch gravierender. Denn das Alpenland gehört trotz seines potenziell hohen biologischen Reichtums aufgrund seiner geografischen Lage im Herzen Europas und seiner vielfältigen Topografie zu den OECD-LändernExterner Link mit dem höchsten Anteil an bedrohten Arten.

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Die Ausdehnung der Siedlungen und Verkehrsinfrastrukturen, die Fragmentierung des Lebensraums und die intensive Landnutzung gehören laut Bafu zu den Hauptgründen des Biodiversitätsverlustes in der Schweiz, insbesondere im flachen Mittelland.

In den alpinen Gebieten sind es vor allem die intensive Landwirtschaft sowie Wasser- und Freizeitinfrastrukturen wie Skigebiete, die sich negativ auf die Artenvielfalt auswirken.

Neun Millionen Einwohner:innen auf engem Raum

Die bebaute Fläche der Schweiz hat in weniger als 40 Jahren um mehr als 30 Prozent zugenommen. Die Siedlungen wuchsen zwischen 2009 und 2018 landesweit um 6 Prozent oder 181 Quadratkilometer. Dies entspricht der doppelten Fläche des Zürichsees oder einer Vergrösserung um fast 8 Fussballfelder pro Tag.

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Beat Oertli, Professor an der Fachhochschule für Landschaft, Technik und Architektur in Genf, erklärte in einem Beitrag des Westschweizer Radios und FernsehensExterner Link RTS, dass die bauliche Verdichtung dort voranschreite, wo die Biodiversität am reichhaltigsten sei, nämlich in ebenen Gebieten wie dem Mittelland. «Wir haben neun Millionen Einwohner, die einen Drittel des Territoriums bewohnen“, sagte er.

Kurzum: Die Schweiz ist ein kleines, aber dicht besiedeltes Land mit vielen Verkehrswegen. Das ist einer der Gründe für den schlechten Zustand der Biodiversität – auch im internationalen Vergleich.

Die Landschaft wird zunehmend zergliedert. Damit schrumpft der potenzielle Lebensraum von Arten. Siedlungen und Strassen hindern bestimmte Arten daran, von einem Gebiet in ein anderes zu ziehen. Besonders betroffen sind Tierarten, die ein grosses Territorium benötigen, wie beispielsweise der Luchs.

In den letzten 60 Jahren ist die Fläche natürlicher Landschaften zwischen zwei vom Menschen geschaffenen Barrieren von 341 auf 229 Quadratkilometer zurückgegangen. Das spiegelt die zunehmende Landfragmentierung.

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Zu viel Stickstoff in Wasser und Böden

Gleichzeitig verschlechtern sich die natürlichen Lebensräume, oder sie verschwinden sogar vollständig. In den vergangenen 200 Jahren wurden fast 90 Prozent der MooreExterner Link in der Schweiz zerstört, wie das Bundesamt für Umwelt festhält.

Auch andere Lebensräume stehen unter starkem Druck. Die Wasserqualität von Seen und Flüssen hätten sich durch das Ausbringen von Pestiziden, Düngemitteln und anderen Schadstoffen verschlechtert, erklärt Cornelia Krug vom Forschungsschwerpunktprogramm «Globaler Wandel und Biodiversität» der Universität Zürich in einem Meinungsbeitrag auf swissinfo.ch.

Den meisten Bächen in der Schweiz fehlt es an Insektenlarven und anderen Kleinstlebewesen, die empfindlich auf Pestizide reagieren, wie eine aktuelle AnalyseExterner Link des Eidgenössischen Instituts für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz (Eawag) aufzeigt.

An knapp 80 Prozent der Schweizer Bäche ist eine Beeinträchtigung der Wasserlebewesen durch menschliche Einflüsse sichtbar. Nur an etwa 20 Prozent ist die Lebensgemeinschaft naturnah und standortgerecht.

Gemäss Sarah Pearson Perret, Vorstandsmitglied der Naturschutzorganisation Pro Natura, gehört die Eutrophierung, ein Überschuss an Stickstoff oder Phosphat im Wasser oder im Boden, zu den grössten Bedrohungen für die Artenvielfalt in der Schweiz. „Viele Pflanzenarten verschwinden aus einer bestimmten Umgebung, wenn der Stickstoffgehalt steigt“, sagt sie.

Ein Bach in der Landschaft.
Viele Bäche in der Schweiz weisen Spuren von Pestiziden und anderen Schadstoffen auf. Jean-Christophe Bott / Keystone

Invasive Pflanzen verringern die Artenvielfalt

Nach der Zerstörung von Lebensräumen stellen invasive gebietsfremde Arten laut der Weltnaturschutzunion IUCN die zweitwichtigste Ursache für den Rückgang der Artenvielfalt in der Welt dar.

Tiere oder Pflanzen, die in der Regel von anderen Kontinenten stammen, können sich vermehren und über grosse Gebiete zum Nachteil der einheimischen Arten ausbreiten.

In der Schweiz hat die Zahl der invasiven Arten seit 1990 um rund 50 Prozent zugenommen. Im Vergleich zu anderen Ländern befindet sich ihre Ausbreitung zwar noch in einem frühen Stadium, aber gerade deshalb erachtet das Bundesamt für Umwelt ein frühzeitiges Handeln für notwendig. Nur so könne eine weitere Ausbreitung verhindert werden.

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Wenige Schutzgebiete in der Schweiz

Ein weiteres Problem in der Schweiz sind die SchutzgebieteExterner Link von nationaler, regionaler oder lokaler Bedeutung. Sie machen nur etwa 10 Prozent des Schweizer Territoriums aus, verglichen mit einem Durchschnitt von 26 Prozent in der Europäischen Union.

Die Uno-Länder haben sich zum Ziel gesetzt, bis 2030 mindestens 30 Prozent ihrer Land- und Meeresflächen zu schützen.

In den letzten zehn Jahren hat die Schweiz bei den Schutzgebieten keine Fortschritte gemacht, wie 2022 kritisiert wurde.

Der Bund habe nur 1,4 Prozent dessen getan, was gemäss dem «Übereinkommen über die Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen LebensräumeExterner Link» nötig gewesen wäre.

Sarah Pearson Perret verweist auf einen weiteren kritischen Aspekt der Schutzgebiete in der Schweiz. „Im Vergleich zu anderen Ländern sind sie sehr klein. Aufgrund ihrer geringen Grösse wirken sich menschliche Aktivitäten in ihrer unmittelbaren Umgebung oft negativ auf ihre Qualität aus“, sagt sie.

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Wie kann die Biodiversität gefördert werden?

Sarah Pearson Perret ist überzeugt, dass wieder mehr Biodiversität geschaffen werden kann, indem kanalisierte Flüsse renaturiert und Moore revitalisiert werden und der Natur generell mehr Raum gegeben wird.

„In der Schweiz wollen wir, dass alles sauber und aufgeräumt ist. Aber wenn eine Wiese einfach unbewirtschaftet bleibt, hat das grosse und positive Auswirkungen auf die Artenvielfalt“, hält sie fest.

Für François Turian, stellvertretender Direktor von BirdLife Schweiz, besteht die Herausforderung darin, Landwirtschaft und Artenvielfalt unter einen Hut zu bringen.

Das Beispiel des KiebitzesExterner Link, eines in der Schweiz fast verschwundenen Vogels, zeigt für ihn auf, dass es möglich ist, im Einklang mit der Landwirtschaft mehr Lebensraum für bedrohte Arten zu schaffen.

Flächen zur Förderung der Biodiversität in der AgrarlandschaftExterner Link sind eine wirksame Lösung und machen heute 19 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche in der Schweiz aus.

Gemäss einer aktuellen Studie von Agroscope, dem Kompetenzzentrum für landwirtschaftliche Forschung des Bundes, fördern diese selten gedüngten oder gemähten Flächen die Pflanzenvielfalt wirksamer als der Biolandbau.

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Die Einbindung der Landwirtschaftsbetriebe, deren Engagement für die biologische Vielfalt von staatlichen Zuschüsse profitiert (so genannte BiodiversitätsbeiträgeExterner Link), stellt jedoch laut Sarah Pearson Perret nur einen ersten Schritt dar. Es sei auch notwendig, die Bevölkerung zu sensibilisieren.

„Die Menschen sind sich nicht bewusst, dass die Lebewesen miteinander verbunden sind. Das Verschwinden einer Art, auch wenn diese uns unnötig erscheint, hat Auswirkungen auf das gesamte Netzwerk der Lebewesen und damit auf uns alle.“

Editiert von Balz Rigendinger , aus dem Italienischen übertragen von Gerhard Lob

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Zeno Zoccatelli

Welche Tiere und Pflanzen sehen Sie in Ihrem Wohnort nicht mehr? Was können wir dagegen tun?

Die biologische Vielfalt schwindet wegen menschlicher Aktivitäten und Klimawandel. Was sollten wir und die Politik dagegen tun?

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