Der wachsende Einfluss von TikTok beunruhigt – doch die Schweiz will kein Verbot

Die chinesische Videoplattform ist im Ausland mit Verboten und Ermittlungen konfrontiert, weil sie leistungsstarke Algorithmen einsetzt, um Wahlen zu beeinflussen und schädliche Inhalte zu verbreiten. Trotz wachsender Bedenken hinsichtlich der Folgen für die psychische Gesundheit junger Menschen und die Demokratie – insbesondere nach dem Aufschwung der Rechtsextremen in Deutschland – schliesst die Schweiz ein Verbot aus.
Mit seinen süchtig machenden Kurzvideos unterhält TikTok Milliarden von Menschen, alarmiert jedoch die Behörden in den USA und Europa. In den USA wurde TikTok aus Angst vor Spionage fast verboten, in der EU laufen Untersuchungen, weil es schädliche Inhalte verbreiten und Wahlen beeinflussen könnte.
Forscher untersuchen auch die Rolle von Tiktoks Empfehlungsalgorithmen beim Aufstieg der rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD). Die Partei hat ihre Zustimmung bei den jüngsten Bundestagswahlen verdoppelt und geniesst auf der App eine hohe Sichtbarkeit.
Die Bedenken erstrecken sich auch auf die benachbarte Schweiz. Hier hat TikTok über zwei Millionen Nutzer:innen, 75 Prozent von ihnen sind zwischen 12 und 19 Jahre alt. Im Januar meldete sich die chinesische Muttergesellschaft der App, ByteDance, in Zürich an, wahrscheinlich um ihre Präsenz auf das Alpenland auszudehnen. Genaueres über ihre Pläne ist noch nicht bekannt.
Anders als die EU hat die Schweiz die grossen Tech-Plattformen noch nicht reguliert und ein Verbot von TikTok bisher ausgeschlossen. «Cybersicherheit liegt in der Verantwortung von Unternehmen und Privatpersonen», sagte ein Sprecher des Nationalen Zentrums für Cybersicherheit (NCSC).
Kürzlich erklärte die Schweizer Regierung jedoch, ein Verbot von TikTok für Minderjährige unter 16 Jahren zu erwägen. Experten warnen, dass die Reichweite und der Algorithmus der Plattform ein Risiko für die Demokratie und die öffentliche Gesundheit darstellen.
«In einer direkten Demokratie ist es entscheidend, die Auswirkungen von Plattformen auf die öffentliche Meinung zu bewerten und den Zugang zu verlässlichen Informationen zu gewährleisten», sagt Estelle Pannatier, Policy Managerin bei der Schweizer NGO AlgorithmWatch CH.
Demokratie in Gefahr
Die Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen von TikTok auf die Demokratie wachsen. Bei den jüngsten Bundestagswahlen in Deutschland erhielt die AfD die zweithöchste Stimmenzahl – und war auf TikTok sehr präsent.
«Die AfD hat mehr Aufrufe und Fan-Accounts auf TikTok als andere Parteien», sagt Anna Katzy-Reinshagen, Analystin am Institut für Strategischen Dialog (ISD) in Berlin, über ihre aktuelle Studie.
Katzy-Reinshagen untersuchte mit anderen Forschenden die Rolle von TikToks Algorithmus in der Verbreitung von Fehlinformationen und der Verstärkung bestimmter politischer Inhalte.
Ihre AnalyseExterner Link ergab, dass die Hälfte der fünf meistgespielten politischen Videos von der AfD stammten und dass bei vielen wahlbezogenen Beiträgen der von der Europäischen Kommission empfohlene Haftungsausschluss fehlte, um auf politische Werbung hinzuweisen.
Eine weitere StudieExterner Link der investigativen Organisation Global Witness fand heraus, dass TikToks Algorithmus vor den Wahlen stark pro-AfD-Inhalte begünstigte – sogar bei nicht parteigebundenen Nutzer:innen.
Deutsche politische Parteien wie die Sozialdemokratische Partei und Die Linke waren im Vorfeld der Wahlen im Februar ebenfalls auf TikTok präsent, doch ihre Inhalte waren weit weniger sichtbar als die der rechtsgerichteten Parteien.
Das ist nicht neu: Die AfD war bereits vor den Regional- und Europawahlen 2024 die auf TikTok präsentesteExterner Link und in der Suchleiste der chinesischen Social-Media-App am häufigsten vorgeschlageneExterner Link Partei und gewann bei den Wahlen unter den 18- bis 24-Jährigen an Zustimmung.
Die Schweizer Parlamentarierin Meret Schneider (Grüne) befürchtet, dass ein ähnliches Phänomen auch in der Schweiz auftreten könnte. Wie in Deutschland erhält die rechtsgerichtete Schweizerische Volkspartei auf TikTok mehr AufmerksamkeitExterner Link als ihre Konkurrentinnen, obwohl sie erst seit kurzem auf der Plattform vertreten ist.
In einem InterviewExterner Link mit dem Tages-Anzeiger forderte Schneider eine «dringende» Regulierung der sozialen Plattformen.
TikTok könnte auch der Schweizer Jugend schaden
Die Besorgnis über TikTok beschränkt sich nicht auf die Politik. Eine Untersuchung des öffentlich-rechtlichen Schweizer FernsehensExterner Link SRF ergab, dass der Algorithmus der Plattform durch die Bereitstellung von Videos, die auf umfangreichen Daten zum Userverhalten basieren, Gefühle von Traurigkeit und Depression verstärken kann.
«Wenn jemand auf traurige oder depressive Inhalte reagiert, empfiehlt der Algorithmus von TikTok noch mehr davon», sagt Lion Wedel, Forscher am Weizenbaum Institut in Berlin, der die Plattform analysiert.
Aus Dokumenten, die letztes Jahr in den USA aufgedeckt wurdenExterner Link, geht hervor, dass TikTok sich der Risiken seiner Empfehlungsalgorithmen bewusst war, aber nichts unternahm, um diese Auswirkungen einzudämmen.
Die Universität Zürich untersucht auch den möglichen Zusammenhang zwischen TikTok-Videos und dem Alkohol- und Zigarettenkonsum unter Jugendlichen in der Schweiz. «Viele Videos zeigen junge Menschen, die sich mit einem Glas [Alkohol] oder einer Zigarette in der Hand mit Freunden amüsieren», sagt Thomas Friemel, Professor für Medienwissenschaft.
Die Ergebnisse dieser UntersuchungExterner Link, an der rund 1500 Jugendliche aus der ganzen Schweiz teilnahmen, werden im Herbst veröffentlicht.
Besorgniserregende Algorithmen
Viele Social-Media-Apps verwenden Empfehlungsalgorithmen. Doch die ausgefeilte KI und enorme Reichweite von TikTok machen die chinesische App für Expertinnen und Experten, die ihre Auswirkungen untersuchen, bedenklicher als andere Plattformen.
«TikTok ist einzigartig», sagt Lion Wedel vom Weizenbaum Institut in Berlin. «Es passt sich in Echtzeit an die Nutzer an, andere Plattformen sind viel langsamer.»
Der Forscher analysierte von 350 TikTok- und 120 Instagram-Nutzerinnen und Nutzern gespendete Daten und fand heraus, dass die chinesische Plattform mehr Informationen als ihre Konkurrenz sammelt, um die Personalisierung der Feeds zu verfeinern.
TikTok speichert die von den Nutzer:innenn angesehenen Videos bis zu drei Monate lang und verfolgt bis zu 6000 vergangene Likes, unabhängig vom Alter. Es sammelt zudem alle Aktivitäten – wie Sehdauer, Pausen und Engagement – und behält sie über Monate.
Leistungsstarke Algorithmen für maschinelles Lernen verarbeiten diese Informationen in Echtzeit und passen die empfohlenen Inhalte entsprechend an. «Die Daten von Tiktok sind die detailliertesten», sagt Lion Wedel.
Ein weiteres Merkmal von TikTok ist, dass es nicht nur explizite Interaktionen (Likes, Kommentare, Follower) auswertet, sondern auch implizite.
«Es versucht zu verstehen, was unsere Aufmerksamkeit erregt, auch wenn es nur für ein paar Millisekunden ist», sagt Martin Degeling, Informatiker bei der NGO AI Forensics, die intransparente Algorithmen untersucht. Diese Fähigkeit, den Feed ganz gezielt zu personalisieren, macht TikTok laut Degeling so innovativ und fesselnd.
Wie eine Schweizer Plattformregulierung aussehen könnte
Schweizer Nutzerinnen und Nutzer geniessen einen teilweisen Schutz dank des European Digital Services Act. Er verbietet gezielte Werbung für Minderjährige, schreibt Transparenz bei Empfehlungsalgorithmen vor und verpflichtet Plattformen dazu, illegale Inhalte zügig zu entfernen.
Estelle Pannatier von AlgorithmWatch ist jedoch der Meinung, dass dies nicht ausreiche, um die Schweizer Nutzerinnen und Nutzer zu schützen. «Eine Regulierung in der Schweiz ist unerlässlich», sagt die Aktivistin.
Pannatier unterstützt die Forderung nach mehr Transparenz, wie Plattformen Inhalte empfehlen und moderieren und wie sie bestimmte Usergruppen ansprechen. Eine geplante RegulierungExterner Link in diese Richtung wurde für letztes Jahr erwartet, doch die Schweizer Regierung verzögert sie weiterhin.
Eine Sprecherin des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) sagt, es sei unklar, wie oder wann der Gesetzesentwurf weitergehen werde.
Einige Länder, wie Indien, haben TikTok ganz verboten, während andere, darunter die USA, Kanada und mehrere europäische Länder, die Nutzung der App auf staatlichen Geräten eingeschränkt haben.
Die Entscheidung der Schweiz, die App nicht zu verbieten, erfolgte trotz der Tatsache, dass ein Bericht des Nationalen Testinstituts für CybersicherheitExterner Link des Landes aus dem Jahr 2023 auf Risiken im Zusammenhang mit den umfangreichen Rechten, die Nutzer:innen der Plattform gewähren können, und deren häufigen Lokalisierung hingewiesen hatte, die eine Überwachung «technisch möglich» machen.
Der Test ergab jedoch keine Hinweise auf Schwachstellen oder eine Überwachung der Nutzenden, was laut den Schweizer Behörden ausreicht, um ein Verbot auszuschliessen.
Martin Degeling von AI Forensics warnt, dass es ohne Regulierung für kleine Länder wie die Schweiz härter sei, gegen den Missbrauch von Plattformen vorzugehen: «Wenn sich eine bestimmte Bedrohung auf TikTok ausbreitet, wird es für die Schweiz schwieriger sein, dem entgegenzutreten.»
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Editiert von Gabe Bullard und Veronica De Vore, Übertragung aus dem Englischen mit der Hilfe von Deepl: Petra Krimphove/jg

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