Die Fünfte Schweiz – die schlummernde Kompetenz
Auslandschweizer verfügen in ihren Gastländern meist über ein solides Netzwerk. Dieses und ihr Wissen und ihre Erfahrungen könnten sie dem Heimatland Schweiz zur Verfügung stellen. Die Schweizer Diplomatie erhielte damit mehr "Vor-Ort-Kompetenz".
Europa wächst und die Welt wird trotzdem kleiner! Das ist kein Widerspruch, sondern Realität: Immer mehr Schweizer wandern aus, und immer mehr Fachkräfte, vor allem aus dem europäischen Ausland, ziehen in die Schweiz und finden da Arbeit und eine neue Heimat.
In Europa werden Ländergrenzen durchlässiger, teilweise abgebaut, aufgehoben oder bekommen mehr und mehr nur noch symbolischen Charakter. Auf internationaler Ebene sind Bedeutung und Einfluss von Ländern wie China, Indien und Russland stetig am wachsen.
Wir leben in einer bewegten und insgesamt doch eher positiven Zeit. Positiv vor allem deshalb, weil diese Entwicklungen mit einigen wenigen Ausnahmen ohne kriegerische Auseinandersetzungen ablaufen und der Grad an persönlicher Entscheidungsfreiheit stetig im Wachsen begriffen ist.
Der Abbau von Grenzen, das freiwillige Zusammenwachsen von Ländern zu grösseren Gemeinschaften und die Umwandlung früherer Schwellenländer zu modernen Industriestaaten sind aus globaler Sicht grundsätzlich begrüssenswerte Entwicklungen. Doch bekanntlich hat jede Medaille immer zwei Seiten.
Permanente Anpassung
Die Schweiz mit ihrer schützens- und erhaltenswerten Selbständigkeit und Unabhängigkeit muss sich permanent auf diese sich wandelnden Situationen und Gegebenheiten einstellen. Die Anforderungen welche dabei an die Schweiz gestellt werden, sind speziell im aussenpolitischen Bereich in den letzten Jahren enorm gewachsen.
Entwicklungen, welche früher Jahrzehnte gebraucht haben, können sich heute innert Monaten oder weniger Jahre vollziehen. Dabei spielt die auf globaler Ebene teilweise rasant stattfindende Verflechtung zwischen Politik und Wirtschaft, wie auch die wachsende Verknüpfung von Ökologie und Ökonomie eine zunehmend wichtigere Rolle.
Wer geglaubt hat, offenere Grenzen, beispielsweise innerhalb der EU, führten für die Schweiz zu einer Reduktion ihres Aussenauftritts, der wird von den Realitäten sehr schnell eines besseren belehrt. Zur Sicherung und Erhaltung der Selbständigkeit und Unabhängigkeit wird von der Schweiz heute und in Zukunft nicht weniger, sondern bedeutend mehr Engagement im aussenpolitischen Auftritt abverlangt.
Es wird für die Schweiz immer wichtiger, im Ausland nicht nur gehört und wahrgenommen, sondern vor allem auch korrekt verstanden zu werden.
Auslandschweizer, eine Hilfe für die Diplomatie
Dazu gehört mehr denn je ein gut ausgebautes, leistungsfähiges diplomatisches Vertretungsnetz. Dieses sollte nicht wie derzeit im EU-Raum reduziert, sondern im Gegenteil mindestens erhalten oder noch zusätzlich ausgebaut werden.
Gleichzeitig sollte eine stärkere Einbindung der weltweit vor Ort wohnenden und wirtschaftlich tätigen Auslandschweizer erfolgen. Diese sollten ihre «Vor-Ort-Kompetenz» gezielt und systematisch den jeweiligen diplomatischen Vertretungen zur Verfügung stellen. Die bereits vorhandenen weltweiten Strukturen der Auslandschweizer-Organisation (ASO) könnten dabei als Basis eine sehr hilfreiche und wichtige Rolle übernehmen.
Dies würde wiederum für uns Auslandschweizer bedeuten, dass wir unsere im Ausland erworbene Kompetenz unmittelbar auch dort, also vor Ort, der Schweiz zur Verfügung stellen. Welche Rolle wir Auslandschweizer heute und in Zukunft in Bezug auf die Schweiz spielen, welche Funktionen wir möglicherweise übernehmen, welche Kompetenzen wir der Schweiz zur Verfügung stellen werden, hängt hauptsächlich von uns selber ab.
Wir kennen beide Seiten
Es wäre auf jeden Fall eine geeignete Möglichkeit, unser Land bei Auslandsaktivitäten mit unserem vorhandenen Know-how vor Ort sinnvoll zu unterstützen und damit einen guten (ehrenamtlichen) Dienst zu erweisen. Einen Dienst, welcher in dieser Form nur wir Auslandschweizer erbringen können.
Denn nur wir verfügen normalerweise durch unsere Herkunft nicht nur über eine enge Verbundenheit mit der Schweiz, sondern wir kennen aus eigener Erfahrung auch unser Gastland, dessen spezielle Gegeben- und Eigenheiten, die es, auch von der Schweizer Diplomatie, zu berücksichtigen gilt.
Die Schweiz täte deshalb gut daran, diese «schlummernde Kompetenz» besser zu nutzen.
Er ist 1956 in Zürich geboren.
Von Beruf ist er selbständiger Kaufmann/Unternehmer.
Kaul ist Vater von vier Kindern und lebt seit 1991 bei Dresden, im Osten Deutschlands.
Er ist u.a. Vizepräsident der Auslandschweizer-Organisation (ASO) in Deutschland, Mitglied des Auslandschweizerrats (ASR), sowie schweizerischer Honorarkonsul in Dresden.
Gegen 700’000 Schweizerinnen und Schweizer leben im Ausland, der Grossteil von ihnen innerhalb der Europäischen Union.
Knapp 120’000 Schweizer Staatsangehörige im Ausland haben sich auf den Wahllisten eingetragen und nehmen am politschen Leben der Schweiz teil.
In Deutschland sind es gut 75’000. 46’000 sind Doppelbürger.
3145 in Deutschland lebende Schweizer sind in Vereinen organisiert.
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