Die Meere leiden, und keiner nimmt es wahr
Den Weltmeeren geht es schlecht. Sie leiden unter dem Klimawandel und den Eingriffen des Menschen. Massnahmen seien dringend nötig, sagt der Schweizer Meeresbiologe Nikolaus Gelpke, Initiant des kürzlich publizierten Berichts World Ocean Review.
«Das Meer ist gross, dunkel und feindlich. Über die Tiefsee wissen wir wenig, über den Meeresgrund weniger als über den Mond. Wir wissen aber, dass es dem Meer nicht gut geht. Es ist ein Patient, der immer kränker wird – und keiner nimmt es wahr», sagt der Schweizer Meeresbiologe und Herausgeber der Zeitschrift Mare in Hamburg.
Der 200 Seiten starke Bericht über den Zustand der Meere basiert auf Erkenntnissen renommierter Forscher und will von den Herausgebern als «weltweite Konsensmeinung» verstanden werden.
Temperatur und Meeresspiegel steigen, Gletscher schmelzen, die Meere werden leer gefischt und verseucht. Der im Zuge der Globalisierung massiv zugenommene Schiffsverkehr verlärmt die Meere und verstört die Tierwelt. Das wissen wir aus den Medien.
Wie schlimm es aber wirklich um den Zustand der Ozeane stehe, sei noch zu wenig in den Köpfen der Menschen, sagt Nikolaus Gelpke.
Besonders dramatisch sei der Einfluss des Klimas auf das Meer: «Über die Hälfte des CO2-Anteils, den wir emittieren, wird von den Meeren aufgenommen. Sie schlucken jedes Jahr viele Millionen Tonnen Kohlendioxid. Das ist für uns grossartig, denn ohne die Meere wäre der Klimaeffekt schon viel stärker.»
Marines Ökosystem kommt ins Wanken
Die Aufnahme von CO2 durch die Meere, die zwar «riesig, aber nicht unendlich sind», führen zu einer Versauerung der Meere. Und diese wirkt sich negativ auf die Tier- und Pflanzenwelt aus.
«Die Skelette der Tiere, die Kalkschalen, werden weicher. Es kommt zu Artenverschiebung und Artensterben. Das ist nicht mehr aufzuhalten, höchstens noch abzubremsen», betont Gelpke.
Für die Menschen ist das eine Katastrophe, weil das Meer ein wichtiger Nahrungsmittellieferant ist und Fische in gewissen Gegenden zur Grundnahrung gehören.
Weniger dramatisch beurteilt Gelpke den langsamen Anstieg des Meeresspiegels. «Es wird zwar Menschen geben, die umziehen müssen, aber wir in Europa können mit Deichbau reagieren. Treffen wird es aber einmal mehr die Ärmsten, zum Beispiel in Bangladesh.»
Nicht zu unterschätzen ist jedoch das Abschmelzen der weissen Polkappen, denn diese können immer weniger Wärme zurückstrahlen, wodurch sich die Erde schneller aufheizt.
«Das führt zu Versteppung und Wüstenausbreitung. Im südlichen Europa ist diese Entwicklung bereits im Gang, sie ist nicht mehr aufzuhalten. Am härtesten trifft es aber Afrika.»
Fangquoten werden ignoriert
Afrika gehe es auch in der Fischerei immer schlechter, sagt der Experte. «Die Fischerei-Politik der Europäischen Union (EU) war in den letzten Jahrzehnten so desaströs, dass viele Fischarten ausgestorben sind oder bald aussterben werden.»
Und die Fangquoten der EU würden vor der westafrikanischen Küste nicht eingehalten. «Sobald der Fischbestand laut Quote leergeschöpft ist, fahren die grossen EU-Fischereiflotten nach Westafrika und fischen dort das Meer leer – so dass einheimische Fischer keine Arbeit mehr haben», kritisiert Gelpke.
Die zuständigen EU-Kommissare könnten sich nicht gegen die Fischerei-Lobby von Frankreich, Spanien und Portugal durchsetzen, das hätten sie sogar öffentlich zugegeben.
Es brauche dringend Massnahmen, um die Wildfischerei unter Kontrolle zu bringen, und Schutzgebiete, damit sich der Fischbestand erhole, wie das auch Ende Oktober an der UNO-Artenschutzkonferenz in Nagoya beschlossen wurde.
Die grosse Politik ist gefordert
Der Schutz der Ozeane ist laut dem Meeresexperten dringend nötig, und zwar nicht nur in wirtschaftlich guten Zeiten. Um Umweltschutz müsse man sich kümmern – gerade bei den Meeren.
«Das ist nicht wie mit den Wiesen, die man mähen kann und in der nächsten Saison sind sie wieder da. Das Meer ist wie ein Supertanker, der 25 Meilen braucht, um zu bremsen.»
Damit sich in Bezug auf die Meere etwas ändert, braucht es laut Nikolaus Gelpke Druck auf die internationale Politik, via Medien und Sensibilisierung der Öffentlichkeit.
Es sei vielleicht zynisch, so der Meeresbiologe: Aber Ereignisse wie die Öl-Katastrophe im Golf von Mexiko im Frühling dieses Jahres seien hilfreich, weil sie den Menschen die Augen öffneten.
«In der Politik finden die Meere leider kaum Platz, mit ihnen sind keine Wahlen zu gewinnen – noch nicht.» So hat der Schweizer in Hamburg denn auch wenig Hoffnung, dass die Klimakonferenz im mexikanischen Cancún mit einem Erfolg enden wird. Auch wenn «sein» Bericht über den Zustand der Meere dort deponiert ist.
«Es wird sein wie in Kopenhagen: Versuche konkreter Verabredungen für die Zukunft werden an den USA, China und Indien scheitern.» Kein Politiker könne es sich leisten, sich mit dem aufstrebenden China anzulegen. «Profit und kurzfristiges Denken haben in Politik und Wirtschaft zur Zeit Vorrang.»
Geboren 1962 in Zürich.
Ab 1984 Studium der Meeresbiologie an der Universität Kiel.
Er war Forschungstaucher für die Universität Zürich und Greenpeace.
Gelpke ist Mitbegründer der Zeitschrift Mare, die seit 1997 sechs Mal pro Jahr in deutscher Sprache erscheint.
Er ist auch Chefredaktor und Verleger von Mare sowie Initiator des World Ocean Review.
Unter dem Motto «Mit den Meeren leben» ist am 18. November 2010 in Hamburg der erste World Ocean Review präsentiert worden.
40 Wissenschafts-Autoren haben die Erkenntnisse von über 250 Forscherinnen und Forschern für den Bericht in Zusammenarbeit mit dem Mareverlag aufbereitet.
Der auf Deutsch und Englisch verfasste Review ist kostenlos und wird an Schulen, Wissenschafts-Institute, Firmen, NGO und Politiker verteilt.
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