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Die Romandie erlebt ihr populistisches Coming Out

Die SVP ist nun auch in der Romandie salonfähig. Keystone

Die Westschweizer SVP-Wählerschaft wurde lange Zeit stigmatisiert. Nun hat sie die Scham überwunden und feiert ihren Sieg.

Der SVP-Erfolg zeigt, dass die Unzufriedenheit der Bevölkerung auf beiden Seiten der Sprachgrenze dieselbe ist.

Ein Tabu ist gefallen. «Noch vor vier Jahren betrachtete man uns als Extremisten und Nazis», sagte ein Neuenburger SVP-Wähler am Sonntag gegenüber dem Westschweizer Radio. Offensichtlich hat der Wind gedreht, wie ein Blick auf die Wahlresultate zeigt.

«Die Leute haben diese Partei gewählt, weil sie einfach genug haben», bestätigt eine Neuenburgerin, die wie jeder fünfte Stimmberechtigte in ihrem Kanton SVP wählte.

Kontraproduktive Ausgrenzung

«Es gibt Probleme, auf welche die Bevölkerung sehr sensibel reagiert», erklärt der Genfer Soziologieprofessor Ueli Windisch. «Die anfänglichen Vorbehalte der Romandie gegenüber der SVP, die als rassistisch verteufelt wurde, sind angesichts der Wirtschaftskrise gefallen.»

Seit den Neunzigerjahren konnte die SVP ihren Wähleranteil landesweit von 11% auf rund 27% steigern. Laut Windisch ist dieser Anstieg auf ein ganzes Bündel von Unzufriedenheits-Faktoren zurückzuführen, die mittlerweile allen Schweizern gemeinsam sind: ein diffuses Unsicherheitsgefühl, berechtigte Ängste um die Zukunft der Altersvorsorge, der Arbeitsmarkt sowie bestimmte Missbräuche im Asylbereich.

Gewählt werde, so Windisch, stets auf der Grundlage der persönlichen Erfahrungen. Die Verteufelung der SVP habe deshalb sogar einen gegenteiligen Effekt gehabt. «Sie verunglimpfte die Sichtweise der Bevölkerung.»

Windisch erinnert an die Reaktion des französischen Rechtspopulisten Jean-Marie Le Pen. Als dieser in einem Fernsehduell beschimpft wurde, habe Le Pen seinem Gegenüber geantwortet: «Machen sie ruhig weiter, das bringt mir zusätzliche 100’000 Stimmen.»

Die Analyse des Politologen Claude Longchamp zielt in die gleiche Richtung: Die SVP habe es hervorragend verstanden, sich als Opfer darzustellen, und daraus Profit zu ziehen.

Klare Sprache

Die SVP wage es, so Windisch, bestimmte Fragen sehr direkt anzusprechen, während sich die bürgerlichen Parteien darum drückten und versuchten, politisch korrekt zu bleiben. Die SVP habe zudem den Vorteil, dass sie sehr klar Position beziehe.

Hinzu kommt eine erfolgreiche Kommunikation. Den bürgerlichen Parteien gelang es nicht, mit dem von der SVP vorgegebenem Tempo Schritt zu halten.

Deshalb ist es der SVP laut Windisch auch gelungen, den anderen Gruppierungen sowie den Medien ihre politische Agenda aufzuzwingen.

Ultra-liberal und neo-konservativ

«Die Partei reagiert auf die Ängste der kleinen Leute», sagt Politologe Longchamp. «Die SVP ist in Wirtschaftsfragen ultra-liberal und in allen anderen Belangen neo-konservativ.»

Vermutlich sei die Partei auch weniger rassistisch und anti-sozial als man sie oft darstelle, räumt Windisch ein.

Für einen Arbeiter aus La Chaux-de-Fonds «verteidigt Christoph Blocher die Anliegen der Arbeiterschaft oft besser als die Sozialdemokraten». Dennoch wähle er weiterhin links, «aus Tradition».

Ein Bundesrat Blocher hätte laut Windisch durchaus Berührungspunkte mit der Linken. «Er will eine starke Wirtschaft, die aber ganz gemäss der Schweizer Tradition die sozialen Aspekte nicht vernachlässigt.»

Historische Verzögerung

In der Deutschschweiz ist die SVP längst salonfähig geworden. Über ihr ultra-liberales Credo hinaus, ist es vor allem ihr Image einer Partei, die den Filz bekämpft und die Tatkraft preist, was bei Wirtschaftskräften gut ankommt.

Vier Jahre brauchte die Romandie bis sie sich wie die Deutschschweiz klar zur SVP bekennen konnte. «Seit ihren Anfängen wurde die SVP in der Romandie als eine Deutschschweizer Partei wahrgenommen. Dies genügte, um automatisch Vorbehalte der Westschweiz gegenüber dieser Partei hervorzurufen», erläutert Windisch.

Claude Longchamp fügt hinzu, dass sich der Graben zwischen den beiden Sprachregionen vor allem während der Abstimmung über einen EU-Beitritt öffnete. Diese Frage habe aber viel von ihrer Aktualität verloren.

swissinfo, Anne Rubin
(Übertragen aus dem Französischen: Hansjörg Bolliger)

Bei den Wahlen 2003 gelangen der SVP in der Romandie spektakuläre Siege:

In den Kantonen Waadt, Freiburg und Genf erreichte die SVP Zunahmen von 10 Prozentpunkten.

In den Kantonen Genf und Waadt ist die SVP nun zweitstärkste Partei.

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