Die Schweiz in der psychiatrischen Krise
Die psychiatrische Versorgung in der Schweiz steckt in einer Krise. Die Kliniken sind überfüllt, Psychiater auf Monate hin ausgebucht.
Nur sehr langsam öffnen sich Politik und Versicherer für neue Lösungen, die in anderen Ländern gang und gäbe sind.
Im ganzen Land sind alle psychiatrischen Kliniken voll bis überbelegt. Das gleiche Bild zeigt sich bei den Psychiaterinnen und Psychiatern mit eigener Praxis: Überall im Land müssen Hilfesuchende lange bis sehr lange Wartezeiten in Kauf nehmen, manchmal monatelang, um einen Therapieplatz zu ergattern.
Wenn es so weiter geht mit der psychiatrischen Krise in der Schweiz, droht früher oder später ein Kollaps. «Vordergründig zeigt sich die Krise in der völligen Überfüllung der Kliniken, die Mitarbeiter sind entsprechend überlastet oder ausgepumpt, der Unruhe- und Aggressionspegel auf den Stationen ist stark gestiegen, infolge der Aufnahmepflicht in der Psychiatrie entsteht Entlassungsdruck und viele Patienten werden frühzeitig entlassen», erläutert der Direktor der Sozial- und Gemeindepsychiatrie Bern, Hans Dieter Brenner, gegenüber swissinfo die Situation.
Die Gründe für die psychiatrische Versorgungskrise liegen einerseits in der Zunahme der psychischen Probleme und Erkrankungen. «Die Vereinzelung unserer Gesellschaft, der Verlust von tragenden Wertvorstellungen, ein unerwarteter Verlust des Arbeitsplatzes», so Brenner, sind Gründe hierfür, zudem nahmen auch bestimmte psychische Erkrankungen zu, insbesondere Depressionen und Angststörungen.
Die stationären Behandlungen haben sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt.
Ein politisches Problem
Andererseits ist die Problematik aber ein Strukturproblem. Die Schweiz steckt nämlich in einer Psychiatrie-Krise, obwoh sie im Vergleich zum Ausland eine höhere Dichte an Psychiatrie-Betten in Kliniken und an Psychiatern hat. Doch ist dies im Gegensatz zum näheren und ferneren Ausland, wo man in den 90er Jahren neue Angebote integriert hat, ein uneffizient einseitiges Angebot. Insbesondere fehlt ein gutes Angebot an Ambulatorien oder anderen Formen von nichtstationärer Hilfe.
Ambulatorien gibt es in der Schweiz zwar seit den 90er Jahren auch, jedoch nur für ältere, chronisch kranke Menschen. In dieser Patientengruppe hat man in den 90er Jahren auch in der Schweiz vorbildlich neue Angebote integriert und Patienten, die früher jahre- bis jahrzehntelang in Kliniken wohnten, konnten so in betreuten Wohngruppen leben und ambulant psychiatrisch betreut werden. Diese neue Form der Betreuung von chronisch psychisch kranken und behinderten Menschen zeigte sich auch finanziell als bessere Lösung.
Nur Lippenbekenntnisse
Ambulant vor stationär, dieser Leitsatz blieb aber für alle anderen Bereiche der psychiatrischen Betreuung und die anderen Patientengruppen in der Schweiz bisher ein Lippenbekenntnis, bedauert der Direktor der Sozial- und Gemeindepsychiatrie Bern, Hans Dieter Brenner: «Der Grossteil der verfügbaren Ressourcen fliesst nach wie vor in die stationären Therapien, doch die stationäre Behandlung ist und bleibt die teuerste Behandlung.»
Im Ausland sind verschiedene nicht-stationäre Angebote schon länger erprobt und anerkannt, auch von den Versicherern: In England und den USA sind vor allem Tagesklinik-Angebote sehr verbreitet, die integrative Therapie, die ambulant in psychiatrischen Kliniken angeboten wird und welche die Betroffenen in ihrem sozialen Umfeld belässt, kennt man auch in Deutschland. Der Vorteil von diesen beiden Formen ist, dass die Patienten weder zwingend berufliches noch persönliches Umfeld verlassen müssen, das nach einem Klinikaufenthalt dann auch wieder aufgebaut werden müsste. Für deutsche Versicherer war es insofern eine Alternative, als die Kosten für Tagesklinik oder von der Klinik angebotenen ambulanten, sogenannten integrierten Therapie tiefer lagen als bei stationären Therapien.
Pilotprojekte in Bern, Genf, Zürich
Solche Angebote gibt es in der Schweiz bisher keine, und sie wurden auch politisch bisher nicht gefördert. In ersten Ansätzen wird die integrierte Therapie in Bern, Genf und Zürich angeboten. Sie sind aber eben nicht Früchte eines grundlegenden Umdenkens, sondern in allen drei Fällen ein Engagement der jeweiligen psychiatrischen Klinik, welche zusätzlich ambulante Therapien anbietet. Dieses Engagement müssen sie aus ihrem bisherigen Budget abbuchen, auch wenn die ambulante Therapie, wie zum Beispiel in Bern, nicht direkt von der Klinik Waldau selber, sondern von der Gemeinde angeboten wird.
Betroffene begrüssen ambulante Therapien
Dennoch, das Ruder wird in diesem Bereich nicht so schnell herumgerissen sein. Zwar sei an einer Tagung zum Thema, an der sowohl Ärzte wie auch Versicherer, Politiker und Angehörigengruppen sowie Betroffenenvereine vertreten waren, herausgekommen, dass «die gemeinsamen Interessen grösser sind, als dass sie divergieren», sagt Hans Dieter Brenner. Der Direktor der Sozial- und Gemeindepsychiatrie Bern freute sich insbesondere auch darüber, dass gerade die Angehörigengruppen und Betroffenenvereine an der Tagung ihr Interesse an den verschiedenen Formen von ambulanten Therapien geäussert haben.
Nicht selten kommt es nämlich soweit, dass eine Person während dem Aufenthalt in einer Klinik die sozialen Kontakte verliert, welche nach dem Aufenthalt wieder aufgebaut werden müssen. Und dies ist in der Schweiz insofern noch problematischer, als infolge der Voll- bis Überauslastung der Kliniken immer wieder Patienten entlassen werden, die noch nicht stark genug sind, und dann später wieder eingewiesen werden müssen. Daraus kann ein Teufelkreis entstehen, der für Patient wie Ärzte und auch die Versicherer belastbar ist.
Brenner erhofft sich vom Spardruck insofern positive Auswirkungen, als dadurch die Bereitschaft für neue Formen der psychiatrischen Versorgung auch von Politiker- und Versichererseite nicht ganz so langsam kommt, wie befürchtet. «Da wir nicht mehr Ressourcen zur Verfügung haben werden in Zukunft, müssen wir sie intelligenter einsetzen, wir müssen Ressourcen von der stationären Behandlung in die integrierte Behandlung verlagern, die die stationäre Behandlung entlasten können», so das Votum Brenners.
Effiziente Kriseninterventions-Angebote fehlen
Was in der Schweiz im Vergleich zu Deutschland und anderen Ländern noch gänzlich fehlt, sind Angebote wie Kriseninterventions-Zentren, welche ambulante Sprechstunden anbieten oder entsprechende mobile Interventions-Teams, welche bei akuten Fällen Hilfe leisten können. Diese könnten, weil rechtzeitig und auch zusammen mit dem Hausarzt gehandelt werden kann, bei nicht akuten Fällen eine Verschlechterung der Situation vorbeugen und eine stationäre Einweisung unnötig machen. Ein psychologischer Infarkt ist in der Schweiz also nach wie vor tödlicher als ein physisches Herzversagen.
swissinfo, Anita Hugi
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch