Die Schweiz ist kein Arbeitsparadies für Frauen
Statistisch weist die Schweiz für Frauen eine hohe Erwerbsquote aus, fast schon wie in Skandinavien. Allerdings arbeitet die Mehrheit der Frauen nur Teilzeit. Auf der Chefetage sind sie selten zu finden.
Unternehmensberaterin Sonja A. Buholzer interpretiert gegenüber swissinfo, wo Defizite herrschen und was auf dem Spiel steht.
Wieder einmal scheint sich zu bestätigen, wie sehr die Schweiz ein Paradies für Erwerbstätige ist. Gemäss der vom Bundesamt für Statistik jüngst publizierten Daten nimmt die Erwerbsquote weiter zu.
Ein Vergleich zur Europäischen Union (EU) und zur Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigt ausserdem, dass in der Schweiz sowohl Männer als auch Frauen deutlich mehr als in anderen Ländern im Erwerbsprozess integriert sind.
Was die Situation der Frauen betrifft, erstaunt ihre hohe Erwerbsbeteiligung von 74,7%. Sie besagt, dass drei Viertel aller Frauen in der Schweiz arbeiten. Die Schweiz rangiert damit gleich hinter den skandinavischen Ländern.
swissinfo: Können sich die Frauen Helvetiens nun zufrieden zurücklehnen, mit der Genugtuung, im Erwerbsleben inzwischen über dem europäischen Durchschnitt zu stehen?
Sonja A. Buholzer: Weder Frauen noch Männer können sich zurücklehnen! Die hohe weibliche Erwerbsquote wird von so tiefen Werten wie bloss 4% Frauen in Geschäftsleitungs-Funktionen und weniger als 0,4% Frauen in Top-Verwaltungsrats-Sitzen stark relativiert.
Dazu liegt der weibliche Durchschnittslohn 20% tiefer als jener für Männer, und Frauen arbeiten viel mehr auf Teilzeitbasis. Die Höhe der weiblichen Erwerbsquote darf nur in diesem Kontext interpretiert werden.
swissinfo: Was folgern Sie daraus?
S.A.B.: In der Schweiz müssen wir nicht nur zahlenmässig deutlich zulegen, sondern auch qualitativ mehr Frauen in die Führungsetagen bringen. Denn die Erwerbsbevölkerung schrumpft bis 2050, während die Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften steigt.
Erfolgsunternehmen in der Schweiz haben sich öffentlich verpflichtet, dies zu tun. Nicht feministische Ideologie, sondern Arbeitsmarkt-Überlegungen stehen im Vordergrund. Es ist ein Kampf um die Besten, nicht einer zwischen den Geschlechtern.
Dazu braucht es Chancengleichheit. Diese ist, zusammen mit der Familienfreundlichkeit, heute keine Kür mehr, sondern Pflicht. Fähigkeiten sind geschlechtsunabhängig.
swissinfo: A propos Chancengleichheit: Sind es nicht vor allem die vielen Ausländerinnen, die arbeiten müssen, und damit die gesamte weibliche Erwerbsquote stark nach oben hieven?
S.A.B.: Ob In- oder Ausländerin, ist irrelevant. Was zählt, ist, dass 57% aller erwerbstätigen Frauen nur Teilzeit arbeiten.
Bekanntlich eröffnen längst nicht alle Teilzeit-Jobs Karrierechancen, auch die qualifizierten nicht. Damit vergibt die Schweiz im Wettbewerb mit anderen Ländern viele Talente und Stärken.
swissinfo: Stichwort Wettbewerb: Die Zunahme der weiblichen Erwerbsquote wird in der Schweiz von einer Abnahme der männlichen begleitet. In Europa hingegen nimmt diese zu. Ersetzt die Frau in der Schweiz langsam den Mann?
S.A.B.: Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Redaktor! Der Arbeitsplatz eines Mannes ist allenfalls durch zwei weibliche Faktoren gefährdet. Erstens, wenn die Frau mindestens gleich gut ist. Dann kann sie das Rennen im fairen Wettbewerb machen.
Zweitens kann sie einen Mann mit Erfolg ausstechen, da sie ihn ja salärmässig unterbietet. Als Frau erhält sie laut Statistik für dieselbe Arbeit im Durchschnitt 20% weniger Lohn. Womit die Folgen der Lohndiskriminierung der Frau auf die Männer zurückfallen.
Dies wäre beinahe schon ein Fall für ein Gleichstellungsbüro für diskriminierte Männer, die dort die fehlende Chancengleichzeit beklagen können.
swissinfo: Worum geht es denn in diesem verpolitisierten Arbeitsmarkt und dem Erwerbsleben?
S.A.B.: Es geht längst nicht mehr um männlich-weiblich-Diskussionen, sondern um die Besten, Fähigsten und Karrierebereitesten.
Es geht um fairen Wettbewerb im Arbeitsmarkt, um die Nutzung brachliegender weiblicher Potenziale und um die Reduktion des Schadens, den überholte Vorurteile in Wirtschaft und Politik anrichten.
swissinfo: Macht es denn Sinn, sämtliche weiblichen Potenziale auszuschöpfen, wenn die Nation dabei ausstirbt? Mit anderen Worten: Darf man eine hohe Erwerbsquote mit einer niedrigen Geburtenrate in eine Beziehung bringen?
S.A.B.: Ein fairer Wettbewerb im Arbeitsmarkt schliesst in diesem Fall auch das Bereitstellen von – für Mann und Frau gleichermassen – familienfreundlichen Arbeitszeitmodellen ein.
Die «vaterlose Gesellschaft» kann mit flexiblen Arbeitszeit- und neuen Karriere-Modellen für Mann und Frau entschärft werden. Männer sollten zusammen mit ihren Frauen Karriere und Familienarbeit massgeschneidert planen können.
Das ist ein attraktiver Abschied von Rollenstereotypen und der Beginn einer neuen Flexibilisierung der Erwerbs- und Familienarbeit.
Gelingt dies nicht, könnte der «Gebärstreik» der Frauen die Zukunft von modernen Zivilisationen in der Tat in Frage stellen.
swissinfo, Interview Alexander Künzle
Der Anteil der Frauen an der Erwerbsquote stieg in der Schweiz zwischen 2001 und 2005 um 1,5 auf 74,7%.
2006 machten die Frauen 45,9% aller erwerbstätigen Personen aus.
2006 arbeiteten 57,9% der Frauen in der Schweiz Teilzeit (EU: 32,4%).
Auf allen europäischen Arbeitsmärkten nimmt der Anteil teilzeitbeschäftigter Frauen zu (2001 – 2006): In der Schweiz um 8,2% (EU: +17,8%).
Im gleichen Zeitraum nahm der Anteil vollbeschäftigter Frauen in der Schweiz nur um 1,4% zu (EU: +2,6%).
85,8% der Frauen in der Schweiz arbeiten im Dienstleistungssektor.
Die Inhaberin der Wirtschaftsberatung Vestalia Vision schloss ihr Doktorat in Philosophie ab und hat sich im Management weitergebildet.
Sie leitete die internationale Ausbildung einer Grossbank, später die Gesamtausbildung einer Schweizer Bank.
1994 gründete die frühere Bankdirektorin Vestalia Vision und berät Führungskräfte in Wirtschaft und Politik.
Sie ist auch Keynote-Sprecherin, Wirtschaftsreferentin und Autorin von Fachbüchern.
Arbeitsschwerpunkte sind Fragen der Führung, Kommunikation und Ethik.
(Anteile in Prozent, gerundet, 2006)
Island (Männer/Frauen) (91/84)
Schweden (82/78)
Schweiz (88/75)
Niederlande (83/70)
Grossbritannien (82/69)
Deutschland (81/68)
Frankreich (75/63)
EU-25 (78/62)
Italien (75/51)
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