Die Schweiz wird zubetoniert
Das Raumplanungs-Gesetz verlangt einen sparsamen Umgang mit dem Boden. Dennoch werden in der Schweiz jährlich 29 km2 verbaut, was der Fläche des Brienzer-Sees entspricht.
Als Gegenmassnahme möchte der Bund den Föderalismus eindämmen und die Kantone zur Ordnung rufen.
Gebaut wird überall, am liebsten auf der grünen Wiese und meist ohne Rücksicht auf Landschaft und Ästhetik. Ein ausufernder Einfamilienhaus-Teppich frisst sich durch die Schweiz; längst sind die Grenzen zwischen Stadt und Land verwischt.
Fachleute reden von «Siedlungsbrei» und einer «Kalifornisierung der Landschaft». Bereits leben 70% der Bevölkerung in Agglomerationen, davon nur ein kleinerer Teil in den Städten.
Die Idylle vom Landleben
Der Drang ins Häuschen im Grünen widerspiegle den «Wunsch, in einer Gartenzwerg-Idylle zu wohnen», sagt Fritz Wegelin, Vizedirektor des Bundesamtes für Raumentwicklung. Diese Idylle allerdings ist bloss noch Schein.
«In der Agglomeration gibt es nur noch städtische Lebensformen, obwohl die Leute beharrlich behaupten, auf dem Land zu wohnen», sagt Benedict Loderer, Redaktor bei der Architektur-Zeitschrift «Hochparterre» und scharfer Kritiker der schleichenden Verstädterung der Schweiz.
Die Fachleute sind sich heute einig: Der Versuch, mittels Raumplanung die schlimmsten Besiedelungs-Sünden zu verhindern, ist gescheitert. «Offensichtlich ist es nicht gelungen, die Entwicklung besser in den Griff zu bekommen», sagt Fred Baumgartner, Leiter Sektion Siedlung und Landschaft beim Bundesamt für Raumentwicklung (ARE), gegenüber swissinfo.
Die Schlussfolgerung des Bundesamtes ist indes politisch brisant: Der Bund soll in Zukunft vermehrt die Zügel in die Hand nehmen und mehr Kompetenzen erhalten, um den Kantonen und Gemeinden verbindliche Vorgaben machen zu können.
Föderalismus verhindert Gesamtschau
Heute liegt die Zuständigkeit für das Planungs- und Baurecht hauptsächlich bei den Kantonen und Gemeinden; der Bund formuliert lediglich Rahmengesetze.
Diese Spielart des schweizerischen Föderalismus hat zu einer unübersichtlichen Vielfalt an Normen, Definitionen und Begriffen geführt.
Solange die 26 kantonalen Richtpläne und die rund 3000 kommunalen Nutzungspläne nicht von oben koordiniert würden, sei eine geordnete Besiedlung der Schweiz unmöglich, sagt ARE-Vizedirektor Fritz Wegelin.
«Es fehlt die Gesamtschau.» Jeder Kanton, jede Gemeinde plane und baue, ohne auf die regionalen Verhältnisse und Bedürfnisse zu achten.
Wünsche an die Kantone und Gemeinden führten da kaum weiter, glaubt man beim Bund. Die Zielsetzungen der Raumplanung seien in einigen Kantonen kein vordringliches Thema.
Das Bauen beispielsweise ausserhalb der Bauzone werde mancherorts sehr lasch kontrolliert. Tausende von landwirtschaftlichen Ökonomiebauten werden umgebaut, und niemand schaut hin.
Im Kanton Thurgau schiessen Poulet-Mastbetriebe in riesigen Hallen gleichsam aus dem Boden, auf freiem Feld und ohne Planung.
Ruf nach einheitlicher Planung
Der Bund müsse deshalb das Recht erhalten, verbindliche Vorgaben zu machen, um die Kernforderung des eidgenössischen Raumplanungs-Gesetzes durchzusetzen, nämlich den bestehenden Siedlungsraum durch verdichtetes Bauen und Schliessung von Baulücken besser zu nutzen, statt auf der grünen Wiese weiter zu bauen.
Grundlage wäre eine Gesamtschau der Schweiz und die Frage, wo die Siedlungs-Entwicklung sinnvollerweise weiterlaufen und welche Gebiete geschont werden sollen, erklärt Fred Baumgartner vom ARE.
Das Bundesamt für Raumentwicklung ist bereits dabei, entsprechende Vorschläge zu formulieren. Sie sollen nächstes Jahr – zusammen mit einem bilanzierenden Bericht über 15 Jahre Raumentwicklung in der Schweiz – Bundesrat und Parlament vorgelegt werden.
Von externen Raumplanungsexperten kommt Unterstützung
«Wir haben stets eine Zentralisierung gefordert», sagt Raimund Rodewald, der Direktor der Stifung für Landschaftsschutz, gegenüber swissinfo:
«Das Ziel des haushälterischen Umgangs mit dem Boden und die Forderung nach Eindämmung des Bodenverbrauchs ist eine nationale Aufgabe.»
Von juristischer Seite wird beigepflichtet: «Die Einheit des Lebensraums ruft nach einer Einheit der Rechtsordnung», schreibt Martin Lendi, emerierter Rechtsprofessor an der ETH Zürich und Fachmann für Raumplanungs-Recht.
Bei der letzten Revision des Raumplanungs-Gesetzes 1996 habe man die Chance vertan, eine nationale Raumplanung zu ermöglichen.
Frage des politischen Willens
Die Forderung nach mehr Zentralgewalt in der Raumplanung widerspricht allerdings dem heutigen Trend.
Seit einiger Zeit stehen Liberalisierung und Verlagerung der Kompetenzen nach unten wieder im Vordergrund der politischen Debatte. So sollen etwa die Bau- und Nutzungsvorschriften in Landwirtschaftszonen bereits wieder gelockert werden.
Geprüft wird zudem aufgrund einer freisinnigen Motion, ob die Lex Koller (vormals Lex Friedrich) aus dem Jahre 1983 aufgehoben werden kann. Damit könnten Ausländer künftig wieder frei Wohnungen und Ferienhäuser in der Schweiz kaufen.
Diese Entwicklung, warnt die Vereinigung für Landesplanung (VLP), weise in die völlig falsche Richtung und werde fatale Auswirkungen auf das Landschaftsbild haben.
swissinfo, Katrin Holenstein
Von den 42 000 km2 Schweiz werden jedes Jahr rund 29 km2 neu überbaut. Das entspricht der Fläche des Brienzer-Sees.
Jeder Einwohner beansprucht heute 410 m2 Siedlungsfläche. Dieser Wert hat in den letzten Jahren um 20m2 zugenommen.
Über 70% der Bevölkerung lebt in Agglomerationen, die heute bereits 22% der Gesamtfläche der Schweiz bedecken.
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