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Drastische Warnung des abtretenden WWF-Chefs

Laut Martin müssen die Regierungen die Klimaveränderungen langfristig angehen. swissinfo.ch

Viele Länder, darunter auch die Schweiz, sind zu ängstlich, um etwas gegen die weltweite Klima-Erwärmung zu unternehmen.

Diese Ansicht vertritt der Schweizer Claude Martin, abtretender Generaldirektor von WWF International, im Gespräch mit swissinfo.

Der Schweizer Claude Martin hat die letzten 12 Jahre die weltweite Umweltschutzorganisation WWF geleitet(früher World Wildlife Fund). Wenn nichts gegen die Auswirkungen der Klimaveränderungen getan werde, so Martin, werde dies verheerende Folgen für Gesellschaft, Umwelt und Wirtschaft haben.

swissinfo: Vor kurzem beschrieben Sie George Bush als «Bedrohung für den Planeten». Welche Hoffnung auf wirklichen Fortschritt bei der Erhaltung der Arten und der Umwelt besteht, so lange er an der Spitze der mächtigsten Nation der Welt steht?

Claude Martin: Ich denke, wir sollten unterscheiden zwischen dem Einfluss einer Regierung, die von jemandem wie George Bush geleitet wird, und der Tatsache, dass es immer Möglichkeiten gibt, nicht zuletzt in den Entwicklungsländern.

Wir tendieren dazu, die Welt nur aus der Perspektive unserer Länder des Nordens anzusehen. Aber viele Lösungen zur Erhaltung von Arten und Umwelt werden in den Entwicklungsländern ausgearbeitet.

Es sollte also nicht der Eindruck entstehen, dass ein Einzelner wie George Bush alles entscheidet. Aber natürlich geht seine Politik aus unserer Sicht genau in die falsche Richtung.

swissinfo: Die Klimaveränderung ist eine der obersten Prioritäten des WWF. Aber noch immer gibt es Leute, welche die Auswirkungen der weltweiten Erwärmung in Frage stellen. Auch grosse Firmen sind gegen Sie. Stehen die Aussichten da nicht sehr schlecht?

C.M.: Sicher gibt es immer noch den einen oder anderen, der das Geschehen bestreitet, aber niemand nimmt die noch ernst. Ich denke, jede ernsthafte Regierung – auch die der USA – muss zugeben, dass etwas Seltsames geschieht.

Aus den Voraussagen für die nächsten 30 bis 50 Jahre geht klar hervor, was getan werden muss, und darüber ist man sich im Allgemeinen einig: Eine sehr, sehr ernsthafte Reduzierung des CO2-Ausstosses.

Aber am meisten frustriert mich, dass unsere Politiker immer, wenn es darum geht, etwas zu unternehmen, nirgends zu sehen sind.

Ich möchte nicht die ganze Wirtschaft in einen Topf werfen. Auch da gibt es die gleiche Vielfalt wie bei den NGO (Nichtregierungs-Organisationen). Es gibt schwarze und weisse Schafe, und ich denke, viele Firmen haben realisiert, dass die Klimaveränderung langfristig eine Bedrohung für ihr Geschäft ist.

Wenn man mit Rückversicherern wie Swiss Re spricht, zeigt sich, dass sie verstanden haben, wo die Probleme liegen.

swissinfo: Anfang Oktober beschloss die Schweizer Regierung eine Abgabe von 1,5 Rappen pro Liter Benzin und Diesel. NGOs kritisierten den Schritt als reine Kosmetik. Was meinen Sie dazu?

C.M.: Diese Geste ist lächerlich. Wenn man sieht, was dieser Rappen bringt, vor allem im Vergleich zum Anstieg der Treibstoffpreise, so ist das ein Tropfen auf einen heissen Stein.

Ich denke nicht, dass es die Klimapolitik ist, die eine verantwortungsvolle Regierung in einem der reichsten Länder der Welt verfolgen sollte.

swissinfo: Die Schweizer sind sehr stark in humanitären Fragen, aber bei der Klimaveränderung und der Erreichung der Ziele des Kyoto-Protokolls liegen sie schwer daneben. Warum das?

C.M.: In den 1980er-Jahren war die Schweiz in Umweltfragen führend. Aber seither ist sie, zumindest was die Gesetzgebung angeht, in Rückstand geraten.

Wir Schweizer sind nach wie vor Weltmeister im Recycling von Glas und Papier und solchen Dingen, aber in Bezug auf die Umweltpolitik sind wir weit abgeglitten.

Ich denke, das hängt damit zusammen, dass wir zur Zeit eine starke rechtsbürgerliche Regierung ohne langfristige Sicht haben.

swissinfo: In der Schweiz wird im November über ein fünfjähriges Moratorium für genetisch veränderte Organismen (GVO) abgestimmt. Viele sagen, diese könnten den Hunger in der Welt verringern. Stimmt das?

C.M.: GVO – Soja, Mais, Baumwolle und verschiedene weitere, genetisch veränderte Produkte – finden in den Entwicklungsländern immer mehr Anhänger. Das können wir nicht einfach ignorieren.

Ich persönlich schliesse nicht aus, dass GVO eines Tages eine Rolle im Kampf gegen den Hunger spielen könnten, aber vorher müssen noch viele andere Aspekte untersucht werden.

Was das Moratorium in der Schweiz angeht, wo wir eine spezialisierte Landwirtschaft haben, in der die Bauern immer mehr vom Einkommen aus Bioprodukten abhängen, denke ich, dass dieser Nischenmarkt geschützt und nicht durch die Einführung von GVO gefährdet werden sollte.

Meiner Ansicht nach hat der Gesetzgeber in Bezug auf die Beschränkung der möglicherweise verheerenden Auswirkungen genetisch veränderter Organismen keine gute Arbeit geleistet.

swissinfo: Nach über 30 Jahren beim WWF treten Sie zurück. Die Welt scheint heute auf eine Zukunft mit extremen Wetterlagen, abnehmender Artenvielfalt und Mangel an Nahrungsmitteln und Wasser hinzurasen. Sie sind sicher froh, die Verantwortung abtreten zu

C.M.: (Lacht) Nein, nein. Ich laufe sicher nicht davon. Aber auch wenn wir viele Schlachten gewonnen haben, so stimmt es schon, dass es langfristig nicht gut aussieht, vor allem, was die Auswirkungen der Klimaveränderungen auf die Artenvielfalt betrifft.

Das ist zur Zeit meine grösste Sorge: Dass die internationale Gemeinschaft die Milderung der Auswirkungen der Klimaveränderungen nicht ernst genug nimmt. Die langfristigen Auswirkungen werden verheerend sein – auf Gesellschaft, Umwelt und Wirtschaft.

swissinfo-Interview: Adam Beaumont
(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

Der WWF hat sechs Haupt-Aktivitätsbereiche: Klimaveränderung, Wälder, Trinkwasser, Meere, Artenerhaltung und giftige Chemikalien.
Die Organisation hat ein Netzwerk, das in über 90 Ländern aktiv ist.
Seit 1985 hat der WWF über 1,165 Milliarden Dollar (1,51 Mrd. Fr.) in über 11’000 Projekte in 130 Ländern investiert.
James P. Leape wird im Dezember 2005 neuer Generaldirektor von WWF International.

Der in Zürich geborene Claude Martin begann seine Karriere beim WWF in den frühen 1970er-Jahren, als er in Zentralindien lebte und die Ökologie der bedrohten Braasingha-Rehe im Kanha National Park studierte.

Von 1975 – 78 war er Leiter verschiedener Schutzgebiete in Westghana, 1980 wurde er Direktor von WWF Switzerland.

1990 wurde Martin stellvertretender Generaldirektor von WWF International, drei Jahre später zu dessen Generaldirektor ernannt.

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