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Ein Schweizer Mustermodell in Gefahr

Gehört unter Jugendlichen zum Begehrtesten: Eine Lehrstelle in der Informatik. Keystone

Eine Zürcher Firma hat in diesen Tagen eine Lehrstelle für Informatik angeboten – für 50'000 Franken. Allerdings zu Lasten des Lehrlings.

Die Initiative hat hitzige Diskussionen ausgelöst und auf das Problem des chronischen Lehrstellenmangels in der Schweiz aufmerksam gemacht.

Die Aufsehen erregende Idee stammt von der Firma Global Communication Technology (GCT). Statt wie üblich ein bescheidenes Salär für Lehrlinge zu bezahlen, verlangt das Unternehmen umgekehrt, dass die Lehrlinge für ihre vierjährige Ausbildung 50’000 Franken auf den Tisch legen.

Die umstrittene Zürcher Lehrlingsfirma kommt aber vorerst nicht zu Stande: Für ihr Projekt hat die GCT statt 14, wie mit dem Zürcher Mittelschul- und Berufsbildungsamt (MBA) vereinbart, nur 11 Informatiklehrlinge gefunden. Die GCT habe sich deshalb entschlossen, das Ausbildungskonzept in diesem Jahr nicht durchzuführen, teilte Firmenchef Max Holliger mit.

«Wir hatten schliesslich zwei Kandidaten mit dem richtigen Profil», sagte der GCT-Direktor.

Das MBA hatte die grundsätzliche Bewilligung erteilt, bis zu 16 Lehrlinge – gegen Bezahlung – auszubilden. Die einzelnen Lehrverträge hätten aber noch genehmigt werden müssen.

Verschoben, nicht aufgehoben

Dem Zürcher Informatiker wurde vorgeworfen, mit den jungen Leuten Geld verdienen zu wollen. Doch Holliger weist die Vorwürfe zurück. Er ist von seiner Idee überzeugt und glaubt, dass das Projekt nur um ein Jahr verschoben ist.

«Viele kleine und mittlere Unternehmen, die Lehrlinge beschäftigen, haben eigentlich weder Kompetenzen noch Möglichkeiten, eine qualitativ hoch stehende Ausbildung anzubieten», sagt Holliger gegenüber swissinfo. Denn eine Firma müsste viel Zeit investieren. Die GCT hingegen könne diese Qualität bieten, die es den Lehrlingen ermögliche, später leicht eine Stelle zu finden.

A- und B-Liga in der Ausbildung

Die Hauptkritik an Holligers Initiative lautet, dass so eine Berufsausbildung erster Klasse geschaffen würde, die sich nur junge Menschen aus gut gestellten Familien leisten können. Für den überwiegenden Teil bliebe nur die herkömmliche Ausbildung zweiter Klasse.

«Ich finde es einen Skandal, dass dieses Projekt von den Zürcher Behörden anerkannt wurde», ereifert sich Jean-Christophe Schwaab, Ko-Präsident des Schweizerischen Komitees gegen Jugendarbeitslosigkeit (SKJA).

Seiner Meinung nach wird auf diese Weise das bisher geltende System der Berufslehre torpediert. Dieses beruht auf den Pfeilern der theoretischen Ausbildung, die von den Kantonsschulen übernommen wird, und der praktischen Ausbildung, die zu Lasten der Unternehmen geht.

Das Schweizer Modell

Die Initiative des Zürcher Informatikers stellt indessen keine absolute Neuheit für die Berufsausbildung dar. In der Schweiz gibt es bereits einige private und recht teure Berufsschulen. Neu am Projekt Holligers ist, dass die Bezahlung für den Zweig der betrieblichen Berufslehre erfolgen soll, in dem 70% aller jungen Schweizer ausgebildet werden.

Dabei gilt gerade die Betriebslehre in der Schweiz europaweit als Modell. Die jungen Lehrlinge und Lehrtöchter werden direkt nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit von den Firmen für drei bis vier Jahre eingestellt. Oft können sie auch nach Abschluss der Lehre in den Unternehmen bleiben.

Dieses Modell wird häufig dafür verantwortlich gemacht, dass die Jugendarbeitslosigkeit mit 5% in der Schweiz sehr gering ist. In den EU-Staaten, wo die Jugendlichen in der Regel erst nach Abschluss einer Berufsschule ins Berufsleben eintreten, liegt die Rate bei über 18%.

Ein System in der Krise?

Doch in den letzten Jahren hat das Schweizer Modell bereits erste Risse gezeigt. Die Zahl der Unternehmungen, die Lehrstellen anbieten, ist kontinuierlich zurückgegangen. Und die jungen Schulabgänger haben immer grössere Mühe, eine Lehrstelle ihrer Wahl zu finden.

«Viele Firmen nehmen heute ihren Ausbildungsauftrag nicht mehr wahr. Sie stellen nur noch ausgebildete Kräfte ein und überlassen die Kosten für die Ausbildung anderen», kritisiert Chantal Galladé, SP-Nationalrätin und Expertin für Berufsausbildung.

Ihrer Meinung nach ist für diese Situation nicht nur die wirtschaftliche Flaute der letzten Jahre verantwortlich. In vielen Firmen herrsche ein sehr kurzfristiges Denken. Und ausländischen Firmen in der Schweiz sei das betriebliche Ausbildungssystem häufig nicht einmal bekannt.

Fonds für Berufsbildung

Sowohl Chantal Galladé als auch Jean-Christophe Schwaab verlangen angesichts dieser Entwicklung von den Politikern, mehr Druck auf die Wirtschaft auszuüben, um die neuen Normen des Berufsbildungsgesetzes umzusetzen, das Anfang 2004 in Kraft getreten ist.

Dieses sieht insbesondere die Einrichtung von Fonds vor, um solche Unternehmen zu unterstützen, die Lehrlinge einstellen. Wer keine betrieblichen Lehrstellen anbietet, muss in den Fonds einzahlen.

Für Schwaab ist eine funktionierende betriebliche Berufsausbildung die beste Prävention, die Jugendarbeitslosigkeit gering zu halten. Die Schweiz müsse in diesem Bereich aktiv bleiben. Denn: «Wer als Jugendlicher arbeitslos ist, wird schnell ins Abseits gedrängt.»

Initiative ergriffen

Bund und Kantone haben bereits letztes Jahr zusammen mit den Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden einige Initiativen lanciert, um das Lehrstellenangebot zu verbessern. Offenbar mit Erfolg. Gemäss dem Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) hat sich die Situation etwas entspannt. Von einem Lehrstellenmangel könne keine Rede mehr sein.

Für BBT-Sprecher Andreas Merk engen sich viele Jugendliche bei ihrer Berufswahl aber nach wie vor zu stark ein. Bei einem Angebot von 300 verschiedenen Berufen konzentrierten sich die angehenden Lehrlinge meist auf zwei bis drei Berufe. «Doch leider können nicht alle Informatiker oder Bankangestellte werden», meint Merk.

swissinfo, Armando Mombelli
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Nur 20 Prozent der Absolventen der obligatorischen Schule in der Schweiz besuchen eine weiterführende Schule, die zur Matur führt.

70 Prozent der Jugendlichen entscheiden sich für eine Betriebslehre.

Gemäss dem nationalen Observatorium für Berufsausbildung fehlten im Juni 2004 landesweit noch 1500 Lehrplätze.

Im Jahr 2003 hat das Schweizer Stimmvolk eine Volksinitiative verworfen, die vorsah, das Recht auf einen Ausbildungsplatz in der Bundesverfassung festzuschreiben.

Noch im gleichen Jahr gründeten der Bund und die Kantone zusammen mit Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften eine «Task-Force», um das Lehrstellenangebot zu erhöhen.

Das neue Gesetz über die Berufsausbildung ist Anfang 2004 in Kraft getreten. Es sieht finanzielle Anreize für die kommenden drei bis vier Jahre vor, um jungen Menschen beim Einstieg ins Berufsleben zu helfen.

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