Ein Uni-Institut im Herzen der Alpen
Auf der Alp Piora in der Leventina wird nicht nur Käse produziert, sondern im Zentrum für Alpenbiologie auch Wissenschaft betrieben. Vor allem für den Cadagno-Bergsee interessiert sich eine internationale Forschergemeinschaft.
Piora? Da denkt man in der Schweiz wohl zuerst an die berühmte Pioramulde, jene geologische Problemzone, die seit Jahren den Tunnelbauern des neuen Gotthard-Basistunnels Kopfzerbrechen bereitet. Doch es scheint so, als ob das zuckerförmige Dolomitgestein nicht bis auf das Niveau des Tunnels hinunter reicht. Glück für die Mineure.
Piora steht auch für den bekannten Tessiner Bergkäse. Daran wird man erinnert, sobald man an der gleichnamigen Alp angekommen ist – knapp 2000 m.ü.M. Die Alp wird mit Vieh der Mitglieder der Corporazione Boggesi Piora bestossen. In diesem Sommer grasen zirka 240 Kühe auf den Weiden.
Erst auf den zweiten Blick erschliesst sich eine andere Besonderheit der Alp. Direkt unter der Käserei und dem Kuhstall befindet sich ein Universitätsinstitut – das Centro di biologia alpina. Von aussen ist kaum etwas zu erkennen – denn die beiden Landwirtschaftsgebäude aus dem 16. Jahrhundert mit ihren Granit-Dächern wurden vorbildlich restauriert.
Hilfe der Eidgenossenschaft
Dafür hat die Eidgenossenschaft gesorgt, welche die Gelder für die Restauration und den modernen Innenausbau bereit stellte. Im Innenraum des Hauptgebäudes befindet sich ein Unterrichtsraum, ausserdem gibt es ein Labor mit Mikroskopen, eine Bibliothek und individuelle Arbeitsplätze.
Im zweiten Gebäude sind Küche sowie Matratzenlager und Zimmer untergebraucht. Ausserdem sind noch etliche Schlafplätze und weitere Arbeitsplätze in den Sälen direkt über dem Kuhstall vorhanden. «Das ist unsere Dependance», schmunzelt Raffaele Peduzzi. Insgesamt 66 Betten gibt es.
Peduzzi (65), Professor für Mikrobiologie an der Uni Genf und bis vor kurzem Direktor des kantonalen Instituts für Mikrobiologie in Bellinzona, ist Präsident der Stiftung des Zentrums für Alpenbiologie und sozusagen die Seele der wissenschaftlichen Piora-Alp. In der 1994 gegründeten Stiftung sind neben der Eidgenossenschaft und dem Kanton Tessin die Universitäten Genf und Zürich vertreten.
Weltweite Rarität
Es sind vor allem Biologen und Geologen, welche Piora aufsuchen. Aber längst sind es nicht nur Fachleute der Unis Genf und Zürich, die hierher kommen. Die Liste reicht von der Universität Turin bis zu den Hochschulen von Essen und Bremen (Deutschland) und dem Naturhistorischen Museum in Paris.
Doktoranden begeben sich ins Piora-Gebiet auf Recherche, Universitäten bieten Sommerkurse in Biologie oder Umweltwissenschaften an. Ein entsprechendes Sprachenwirrwarr herrscht im Zentrum.
Dabei konzentriert sich das Hauptinteresse der Forscher auf den Cadagno-See. Dieser kleine Alpsee gilt als weltweite Rarität, weil er aus drei Schichten besteht, die sich nicht vermischen – ein meromiktischer See. Oben findet sich Frischbergwasser aus den Granitquellen, in der Mitte eine 1,5 Meter, von roten Schwefelbakterien bewohnte Schicht, und ganz unten eine Schicht mit hochsalz- und schwefelhaltigem Wasser aus unterirdischen Wasserquellen der Dolomitschicht.
Die Schwefelbakterien der Mittelschicht erlauben das Leben in der oberen Schicht und trennen das Frischbergwasser von dem toxischen und nach faulen Eiern stinkenden Unterwasser. Genau dies ist für die Forscher interessant. «Denn es ist wie ein biologischer Filter für toxische Stoffe» sagt Peduzzi.
Suche nach konkreten Anwendungen
Wie dies im Detail funktioniere, ist nicht nur theoretisch, sondern auch für praktische Anwendungsformen interessant. Man denke etwa an die Möglichkeit, durch Mikroorganismen verschmutztes Öl zu neutralisieren. Einige dänische Forscher gehen sogar davon aus, dass der Cadagno-See die Bedingungen widerspiegelt, die bei der Entstehung von Leben auf der Erde (beziehungsweise im Wasser) herrschten.
Schliesslich ist Piora als komplexes Biotop auch in der aktuellen Debatte um den Klimawandel interessant. Man hat festgestellt, dass innerhalb von nur 20 Jahren die durchschnittliche Temperatur in den Monaten Mai und Juni um zwei Grad gestiegen ist. Schnee und Eis verschwinden nach dem Winter früher von der Seeoberfläche. Die Auswirkungen lassen sich bei der Entwicklung der Nahrungsmittelkette sehen.
Die Lage des alpinen biologischen Uni-Instituts hat einen gewichtigen Nachteil. Es kann nur von Juni bis September/Oktober geöffnet werden – je nach Schneesituation. Der eigentliche Sommer ist sogar extrem kurz. «Er dauert nur einen Monat, von Mitte Juli bis Mitte August», lacht Peduzzi.
swissinfo, Gerhard Lob, Alpe di Piora (Tessin)
Die Alpe di Piora befindet sich im Ritom-Gebiet im Leventina-Tal unweit des Gotthard-Massivs. Die Standseilbahn Ritom bringt den Besucher in wenigen Minuten von Piotta in die Höhe. Gebaut wurde sie 1921 im Zeichen der Stromgewinnung aus dem Ritom-Stausee. Sie ist bei einer Steigung von 87,8 Prozent eine der steilsten Standseilbahnen der Welt.
Von der Bergstation kommt man in nur wenigen Minuten Fussmarsch zum Ritom-Stauseee. Der Blick schweift von hier ins Piora-Tal, das sich gegen den Lukmanier hin öffnet. Die Gegend gehört zu den schönsten Berglandschaften der Tessiner Alpen und ist bei Wanderern sehr beliebt.
Die Ritom-Staumauer hat den Wasserspiegel des natürlichen Bergsees von 1831,5 auf 1839 Meter über Meer angehoben. Der See begrub das Hotel Piora unter sich. Durchschnittlich liefert das Kraftwerk jährlich 155 Millionen Kilowattstunden Strom. 54 Mio. im Sommer und 101 Mio. im Winter.
Im Gebiet Ritom-Piora-Cadagno gibt es 21 Seen, 54 Wasserläufe und rund ein Dutzend Moore. Das macht es für botanische und hydrologische Studien interessant. Dazu kommt, dass schon Anfang des 20. Jahrhunderts – als der Staudamm Ritom gebaut wurde – die ersten Forschungen betrieben wurden. Dies lässt Langzeitstudien zu.
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