Eine Pille fürs Vergessen
Neue Psychopharmaka helfen Trauma-Patienten, schreckliche Erinnerungen zu verarbeiten. Kritiker befürchten, dass die Pillen die Persönlichkeit verändern.
Bei einem Versuch mit Ratten ist es Forschern gelungen, mit Hilfe eines spezifischen Medikamentes eine negative Erinnerung gezielt auszulöschen.
Gewalttaten, Naturkatastrophen, Terroranschläge – schreckliche Ereignisse können im Gehirn von betroffenen Menschen eine Spur der Angst hinterlassen. Über 50% der Leute sind mindestens einmal in ihrem Leben von traumatischen Erlebnissen betroffen.
Rund 10% haben grosse Mühe, wieder zur Normalität zurückzukehren und entwickeln ein posttraumatisches Belastungssyndrom, das mit Hilfe einer Psychotherapie behandelt werden muss. Doch nicht bei allen Menschen wirkt die Therapie, weshalb die Suche nach geeigneten Psychopharmaka ein wichtiges Anliegen der Psychiatrie ist.
Erinnerung gezielt löschen
Jetzt hat ein Forscherteam um den New Yorker Neuropsychologen Joseph LeDoux ein Aufsehen erregendes Experiment mit Ratten durchgeführt. Den Hirnforschern ist es mit Hilfe eines Medikamentes gelungen, bei Versuchstieren eine Erinnerung an ein schlechtes Ereignis gezielt auszulöschen (Nature Neuroscience, Bd. 10, S. 414-416)).
Die Forscher setzten die Tiere einem Stromschlag aus und liessen dabei nacheinander zwei unterschiedliche Töne erklingen. Schliesslich erstarrten die Ratten vor Angst, wenn sie nur schon diese Töne hörten.
Dann folgte der wichtigere Teil des Experimentes. Die Forscher wiederholten das Experiment. Diesmal jedoch flössten sie den Ratten beim Erklingen des zweiten Tons ein Medikament ein, das erwiesenermassen die Gedächtnisbildung beeinflusst. Prompt verlor dieser Ton seinen Schrecken. Und fast wichtiger noch: Wenn der erste Ton erklang, zeigten die Versuchstiere weiterhin eine heftige Angstreaktion.
Bei Ratten funktioniert es
Joseph LeDoux, der die Spur der Angst im Gehirn seit Jahren erforscht, erklärt den Sinn des Versuches: «Wir wollten herausfinden, ob sich eine negative Erinnerung auslöschen lässt, ohne dass eine andere beeinflusst wird.»
Bei den Ratten scheint dies der Fall zu sein. Gemäss den Forschern hat das Medikament verhindert, dass die Erinnerung an den Elektroschock vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis verschoben wurde.
Keine voreiligen Schlüsse
Der Schweizer Gedächtnisforscher Dominique de Quervain, der an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich ebenfalls die Grundlagen von Angsterkrankungen und Traumata untersucht, beurteilt die Studie grundsätzlich positiv: «Sie zeigt, dass durch eine gezielte pharmakologische Intervention Gedächtnisinhalte geschwächt werden können.»
De Quervain, der für seine Gedächtnisforschung kürzlich mit dem hochangesehenen Robert Bing-Forschungspreis ausgezeichnet worden ist, warnt jedoch vor voreiligen Schlüssen aus den Tierversuchen: «Traumatische Erinnerungen bei Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung sind viel komplexer und basieren auf unzähligen Verknüpfungen. Ob die Substanz auch solche Erinnerungen beeinflusst, ist fraglich.»
Wiederholte Schreckensbilder begünstigen Trauma
Die Ursachen einer posttraumatischen Belastungstörung sind nach wie vor unklar. 90% aller Menschen verarbeiten ein schweres Ereignis recht gut – selbstverständlich mit Hilfe von Verwandten, Bekannten und Freunden. Viele Menschen spüren nach der Bewältigung eines solchen Ereignisses sogar eine Dankbarkeit oder eine Bereicherung ihres Lebens.
Wieso die übrigen 10% langfristig an den schrecklichen Erinnerungen leiden, ist noch nicht klar. Genetische Faktoren werden diskutiert. Man weiss aber auch, dass starke Emotionen und wiederholte Schreckensbilder die Erinnerungen geradezu ins Gehirn einbrennen und ein Trauma begünstigen.
Die Suche nach besseren Medikamenten geht deshalb weiter. Dominque De Quervain hat das natürliche Stresshormon Cortisol im Visier: «Wir haben beobachtet, dass Cortisol über die Hemmung eines übermässigen Gedächtnisabrufs die Kraft quälender Gedanken zu brechen vermag. Das Gedächtnis an das traumatische Erlebnis wird indes nicht gelöscht.»
Angst vor Veränderung der Persönlichkeit
Viele befürchten, dass eine medikamentöse Behandlung von psychischen Krankheiten und erst Recht die Manipulation von Erinnerungen die Persönlichkeit eines Menschen direkt verändern. Dies ist laut de Quervain sehr wohl der Fall, aber nicht nur bei der Behandlung mit Psychopharmaka.
«Prinzipiell können alle Medikamente, welche auf die Psyche wirken – aber auch Psychotherapien – zu einer Veränderung von Persönlichkeitsmerkmalen führen. Dies kann im therapeutischen Kontext ja aber auch beabsichtigt sein.»
swissinfo, Matthias Meili
Rund 10% aller Menschen, die ein schreckliches Ereignis erleben, entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS).
Symptome von PTBS sind ständig wiederkehrende Erinnerungen, Schlaflosigkeit oder Schreckhaftigkeit. Oft treten Depressionen oder andere psychische Störungen auf.
Frauen entwickeln doppelt so häufig posttraumatische Störungen als Männer.
Betroffene werden mit geeigneten Psychotherapien behandelt. Die Erfolgsrate einer Kurzzeittherapie liegt bei rund 70 bis 80%.
Die eigenen Erinnerungen – ob positiv oder negativ – sind ein fester Bestandteil jeder Person.
Erinnerungen sind nicht fixe Strukturen, sondern bestehen aus dynamischen Verknüpfungen der Nervenzellen im Gehirn, die sich wieder lösen und neu orientieren können.
Heute versteht die Forschung immer besser, wie sich eine Gedächtnisspur im Gehirn festsetzt.
Beim erstmaligen Auftreten eines Ereignisses prägt sich dieses im Kurzzeitgedächtnis ein. Erst nach mehrmaliger Wiederholung des Ereignisses und erneutem Abrufen der Erinnerung verschiebt sich diese ins Langzeitgedächtnis.
Diesen Prozess nennt man Rekonsolidierung. Die Medikamente, die in dem Versuch mit Ratten (siehe Haupttext) angewendet worden sind, hemmen diese Rekonsolidierung.
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