Eine Stadtpräsidentin der Leidenschaft
Carla Speziali, die Stadtpräsidentin von Locarno, hat vor kurzem den "Swiss Award" gewonnen. Kreativität und konkretes Schaffen zeichnen sie aus.
Mit ihren Kolleginnen in der Stadtregierung stellt sie jeden Tag unter Beweis, dass konstruktive Zusammenarbeit nicht nur eine Tugend von Männern ist.
Die Stadt Locarno unterscheidet sich deutlich von anderen Gemeinden im Kanton Tessin: Die Frauen stellen in der Exekutive die Mehrheit und repräsentieren vier unterschiedliche politische Parteien. Dieses Beispiel einer überparteilichen Zusammenarbeit ist immer noch eine Ausnahme in der Schweiz.
swissinfo: Carla Speziali, wie fühlen Sie sich als Chefin einer Exekutive, in der die Frauen in der Mehrheit sind?
Carla Speziali: Wir arbeiten sehr gut zusammen – es ist echte Team-Arbeit. Alle bringen Enthusiasmus, Energie und Kompetenzen mit. Jede und jeder trägt Verantwortung für das jeweilige Departement. Trotzdem geht der Blick fürs Ganze nicht verloren.
Aber ich möchte betonen, dass im Municipio (Stadtregierung) auch drei Männer sitzen. Für diese sind die umgekehrten Mehrheitsverhältnisse vielleicht gewöhnungsbedürftig. Aber wenn wir den Gemeindeschreiber mitzählen, sind wir wieder ausgeglichen…
swissinfo: Wie schwierig ist es für eine Frau, Politik zu machen?
Politik zu machen, ist für alle schwierig, ob Frau oder Mann. Es braucht viel Energie und Hingabe, wenn man sich um die «öffentliche Sache» kümmert. Man muss an das glauben, was man macht.
Politik ist für mich vor allem eine Frage der Ideale und der Leidenschaft. Nur diese können mich jeden Tag neu motivieren. Denn die Probleme und Herausforderungen werden immer komplexer.
Wichtig ist zudem, als Stadtpräsidentin bei Konflikten als Mediator einzugreifen. Ungelöste Konflikte sind Gift für die Arbeit. Doch Auseinandersetzungen müssen konstruktiv gelöst werden.
swissinfo: In Bezug auf die Präsenz von Frauen in Parlamenten ist die Schweiz vom 22. auf den 27. Platz gerutscht. Selbst von Afghanistan wurden wir überholt.
Es muss einen wirklich nachdenklich stimmen, wenn die Schweiz von einem kriegsgeschüttelten Land, in dem die Frauen häufig noch diskriminiert werden, überholt wird. Doch es ist nicht einfach, dies zu erklären.
Die Frauen müssen verschiedene Rollen unter einen Hut bringen: Ehefrau, Mutter, Erwerbstätige. Da ist es nicht einfach, Zeit für die Politik zu finden. Eine Frau, die sich für die Politik entscheidet, muss sich sehr gut organisieren können.
Es braucht auch eine hohe Widerstandsfähigkeit. Ich muss beispielsweise meine Aufgaben in der Anwaltskanzlei und im Municipio in Einklang bringen. Und ich muss mich um meinen Sohn kümmern.
swissinfo: Manchmal neigen Frauen zur Selbsteinschränkung oder zweifeln an ihren Kompetenzen. Während Männer anscheinend sogar bei Inkompetenz gefördert werden.
Diese Art von Argumentation ist nicht meine Sache. Bei Frauen wird auch häufig mit Klischees gearbeitet: Sie gelten als streitsüchtig und konfliktträchtig. In Locarno zeigen wir, dass dies nicht stimmt.
Natürlich verteidigt jede Frau eigene Ideen und dies ist legitim. Doch der Qualitätssprung wird erreicht, indem man für ein gemeinsames Ziel Kompromisse schliesst. Ich erlebe übrigens viel Solidarität von Frauen, genauso wie von Männern. Das gibt mir viel Energie.
Es stimmt, dass Frauen ihre Fähigkeiten mehr unter Beweis stellen müssen als Männer. Aber ich bin auch überzeugt, dass Mittelmässigkeit und Inkompetenz geschlechtslos sind.
swissinfo: Müssen Frauen vielleicht dieselben Machtinstrumente benützen wie Männer, um Erfolg zu haben?
Ich glaube, dass eine Person vor allem kohärent mit sich selber sein muss und die eigenen Ressourcen nutzen muss. Ich habe Politik nie als Machtmittel verstanden. Trotzdem bringen bestimmte Ämter fraglos eine klare Verantwortlichkeit mit sich, die man übernehmen muss.
Ich glaube an den Dialog, die Auseinandersetzung, das Zuhören und einen offenen Geist. Diese sind so zusagen meine vier Kardinaltugenden, sowohl in der Politik wie auch im Alltagsleben. Und damit bin ich bisher gut gefahren.
swissinfo: Wie wichtig ist die Erziehung im Diskurs der sozialen und kulturellen Emanzipation? Sie sind auch Mutter eines Jungen.
Für eine Frau, die immer an die Emanzipation geglaubt hat, bedeutet die Erziehung eines Jungen eine grosse Verantwortung. Es ist aber auch eine sehr schöne Erfahrung.
Mein Sohn Louis war mir in der Zeit vor dem «Swiss Award» sehr nahe. Als man ihn fragte, ob er stolz auf seine Mutter sei, bejahte er. Und präzisierte: «Ich war immer stolz auf meine Mutter, auch früher.» Sie können sich vorstellen, welche Gefühle dies bei mir ausgelöst hat.
swissinfo, Françoise Gehring, Locarno
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
Im Januar 2005 hatten Frauen in den Gemeinde-Exekutiven einen Viertel der Mandate inne.
Bei den Exekutiv-Präsidien lag der Frauenanteil viel tiefer: Nur gerade in 14 von 121 Gemeinden mit mehr als 10’000 Einwohnerinnen und Einwohnern stand eine Frau an der Spitze der Regierung.
Von den Städten mit mehr als 50’000 Einwohnerinnen und Einwohnern hatte keine einzige eine Stadtpräsidentin.
Gegenüber 1997 ist der Anteil der Frauen in den Exekutiven um knapp 3% gestiegen.
Die 44 Jahre alte Carla Speziali ist Anwältin und promoviert in Rechtswissenschaften.
2004 wurde sie auf der FDP-Liste zur Stadtpräsidentin gewählt – als erste Frau in der Geschichte der Stadt.
Ihr Arbeitsleben teilt sie zwischen der Anwaltskanzlei und dem Gemeindehaus auf.
Sie ist auch Präsidentin des Tessiner Verbandes urbaner Gemeinden.
Zudem ist Speziali Mutter eines 14 Jahre alten Jungen.
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