Einer von zwei Erwerbstätigen riskiert sexuelle Belästigung
Überdurchschnittlich oft erleben Teilzeit- oder Schichtarbeitende, Doppelbürgerinnen und in einem Betrieb Neueingetretene sexuelle Belästigung.
Zu diesem Befund kommt eine erste gesamtschweizerische Studie. Die Resultate überraschen auch die Direktorin des Büros für Gleichstellungsfragen, Patricia Schulz.
Ein Drittel der Frauen und zehn Prozent der Männer müssen sich anzügliche Sprüche anhören, Obszönitäten gefallen lassen oder unerwünschte Körperkontakte erdulden.
Zu diesem Befund ist die erste gesamtschweizerische und repräsentative Studie gekommen, wobei rund 2000 Personen, die im Erwerbsleben stehen, befragt wurden. Die Studie wurde vom Eidgenössische Büro für Gleichstellungsfragen (EBG) und vom Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) in Auftrag gegeben.
Die am Dienstag in Bern präsentierte Studie definiert sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz als ein Verhalten, das von einer Seite unerwünscht ist und das eine Person mit Worten, Gesten oder Taten in ihrer Würde verletzt. Sexuelle Belästigung kann von Einzelpersonen oder von Gruppen ausgehen.
Bundespräsident Pascal Couchepin, dem das EBG unterstellt ist, sagte, es liege im Interesse aller, gegen sexuelle Belästigung anzugehen. Diese vergifte das Leben von Zehntausenden von Arbeitnehmenden. Die Wirtschaft müsse an einem guten Betriebsklima, das die psychische und physische Integrität aller Mitarbeitenden schütze, gelegen sein.
Auch Männer betroffen
Die Hälfte der befragten Frauen und Männer ist im Arbeitsleben Situationen ausgesetzt, die das Risiko sexueller Belästigung in sich bergen. Am häufigsten sind abwertende Sprüche und Witze. Meist kommen diese von Arbeitskollegen und -kolleginnen, weniger oft von Kundinnen und Kunden sowie Patientinnen und Patienten.
In der Studie wird auch festgehalten, dass die oft gehörte und gelesene Gleichung «Männer Täter, Frauen Opfer» nicht stimmt. Frauen seien zwar häufiger und stärker mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz konfrontiert als Männer.
Öfter als gemeinhin angenommen seien aber Frauen Täterinnen.
Arbeitnehmerinnen werden mit taxierenden Blicken, Nachpfeifen, abwertenden Bemerkungen und unerwünschten Körperkontakten («Begrapschen») belästigt. Bei Arbeitnehmern stehen demgegenüber unerwünschte Telefonanrufe, Briefe oder Mails sowie obszöne Gesten, Zeichen und Gebärden im Vordergrund.
Überdurchschnittlich oft erleben Teilzeitarbeitende, Schichtarbeitende, Doppelbürgerinnen und Personen, die neu in einem Betrieb sind, sexuelle Belästigung. Das gilt gemäss der Studie zudem für weibliche Hilfskräfte, aber auch für Frauen im oberen Kader.
Unternehmen in Verantwortung
EBG und SECO betonen, dass sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz keine Bagatelle ist. Das Gleichstellungsgesetz und das Arbeitsgesetz nähmen die Unternehmen in die Verantwortung. Wenn diese ihren Sorgfaltspflichten nicht nachkämen, könnten sie mit einer Entschädigungsleistung von bis zu sechs Monatslöhnen belegt werden.
EBG-Direktorin Patricia Schulz erwartet von den Unternehmensleitungen Grundsatzerklärungen, dass sie sexuelle Belästigungen nicht dulden. Es sollte «Null-Toleranz» gelten. Bis heute hätten die Schlichtungsstellen und Gerichte rund 100 Fälle von sexueller Belästigung behandelt.
«Ich bin überrascht von der Breite des Personenkreises, der mit solchen Belästigungen konfrontiert ist», sagte Schulz gegenüber swissinfo. «Auch der hohe Prozentsatz bei Männern hat mich überrascht.»
Dies sei mehr als man erwartet habe, und auch mehr, als internationale Studien vermuten liessen.
Unterschiede West- und Deutschschweiz
Die dritte Überraschung sei für Schulz der Unterschied zwischen der Romandie und der Deutschschweiz. Demnach sehen sich Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer öfter solchen Belästigungen ausgesetzt als Französisch Sprechende.
swissinfo und Agenturen
Diskriminierend ist jedes belästigende Verhalten sexueller Natur oder ein anderes Verhalten aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit, das die Würde von Frauen und Männern am Arbeitsplatz beeinträchtigt.
Darunter fallen insbesondere Drohungen, das Versprechen von Vorteilen, das Auferlegen von Zwang und das Ausüben von Druck zum Erlangen eines Entgegenkommens sexueller Art.
(Art. 4. Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann)
Das EBG und das Seco haben eine Präventionskampagne gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz gestartet.
Einerseits sollen Arbeitsinspektoren vermehrt geschult werden. Diese sollen dann die Verantwortlichen in den Unternehmen informieren.
Als wichtige präventive Massnahmen wird auch eine Grundsatzerklärung der Unternehmensleitung bezeichnet.
Darin soll aufgezeichnet werden, dass sexuelle Belästigung im Betrieb nicht geduldet wird.
Allerdings soll die Unternehmensleitung auch klar signalisieren, dass gegen Täter Sanktionen ergriffen werden.
Mit praxisnahen Broschüren und der Website www.sexuellebelästigung.ch sollen die Betriebe angeregt werden, ihre Verantwortung wahrzunehmen.
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