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EU zwingt Pharmabranche zu mehr Transparenz

Was steht weshalb im Medikamentenschrank? Die EU macht das transparent. Keystone

Anders als die Schweizer Bevölkerung soll die europäische Öffentlichkeit in Zukunft erfahren, wenn Medikamente nicht für den Markt zugelassen werden.

Die Pharmabranche befürchtet durch diese transparente Informationspolitik Imageschäden.

Die Schweizer Pharmabranche muss ihre Kommunikationsstrategien überdenken. Die «Initiative für mehr Transparenz» der Europäischen Union (EU) tangiert die exportorientierte Pharmaindustrie stark: Zwei Drittel ihrer Medikamentenproduktion sind für den EU-Markt bestimmt – da sind Änderungen des EU-Zulassungsverfahrens von Bedeutung.

Laut dem neuem Arzneimittelgesetz der EU werden in Zukunft alle Entscheide der Europäischen Heilmittelagentur (EMEA) veröffentlicht, auch wenn ein Gesuch abgelehnt wird.

Mehr noch: Alle Dokumente der EMEA, die keine vertraulichen Informationen enthalten, werden publiziert, ebenso wie abweichende Meinungen von Wissenschaftlern und allfällige Minderheitsanträge innerhalb der Zulassungsbehörde.

Fürchtet ein Unternehmen die Publikation negativer Beurteilungen, hilft ihm auch ein «präventiver Rückzug» nicht weiter, denn auch über solche taktischen Rückzieher wird die EMEA offen informieren.

EU schafft Transparenz



In Europa bedeutet dies eine völlig neue Praxis, denn bisher lag es allein im Ermessen der Pharmaunternehmen, wann und wie sie die Öffentlichkeit über die Zulassung oder Ablehnung neuer Medikamente unterrichten wollten.

Die Stiftung für Konsumentenschutz (SKS) wünscht sich für die Schweiz die gleiche Transparenz. «Im Interesse der Konsumenten würden wir die Offenlegung der Prüfungsresultate durch eine objektive Stelle sehr begrüssen», sagte Geschäftsführerin Jacqueline Bachmann gegenüber swissinfo. In der Diskussion über das neue Heilmittelgesetz hätten solche Forderungen jedoch keine Chance gehabt.

Bei der Interpharma, dem Interessenverband von Novartis, Roche und Serono, gibt man sich gelassen. Niemand habe etwas gegen Transparenz, erklärt Pressechef Thomas Cueni. Die Unternehmen würden an den Analystenkonferenzen regelmässig Bericht erstatten über den Stand von Forschungsprojekten und Zulassungsverfahren. «Die Transparenz existiert schon heute.»

Dennoch stiess die neue Transparenzregel bei der europäischen Pharmaindustrie auf erheblichen Widerstand, denn die Publikation negativer Entscheide kann unangenehme Folgen haben, besonders, wenn man sie durch die eigene Kommunikationsstelle nicht abfedern kann. Das Image des Unternehmens nimmt Schaden, und die Reaktion der Börse kann niederschmetternd sein.

Kalte Dusche an der Börse

Die Pharmaindustrie hat dies schon mehrfach schmerzlich erfahren müssen. Als beispielsweise die US-Food and Drug Administration (FDA) Ende der neunziger Jahre vom Pharmaunternehmen Roche zusätzliche Tests verlangte für seine Antifettpille Xenical, bestrafte die Börse Roche umgehend mit deutlichen Kursverlusten; gleichzeitig wurde Roche von führenden Investmentbanken in ihren Ratings zurückgestuft.

Vor drei Jahren erlitt Novartis eine ähnliche Schlappe, als die FDA die Marktzulassung des Reizdarmmittels Zelmac und des Asthmapräparats Xolair zurückstellte und weitere Studien verlangte. Die Novartis-Aktien sanken damals auf ein Jahrestief, von dem sie sich lange nicht erholten.

«Kommunikation über Medikamente ist ein besonderes Geschäft», sagt denn auch Thomas Cueni von Interpharma. «Die Information muss äusserst sorgfältig geschehen.»

Auf Druck der EFPIA, der Europäischen Vereinigung der pharmazeutischen Industrie, wurde deshalb im EU-Recht eine Sperrfrist eingeführt: Die Veröffentlichung soll nicht am Tag des Entscheids erfolgen, sondern erst nach Ablauf einer Rekursfrist von 15 Tagen.

Reicht das Unternehmen einen Rekurs ein, dann gilt die Informationssperre bis zum Abschluss des Verfahrens, das heisst mehrere Wochen. Mit dieser Frist erhält das Unternehmen Zeit, um sich eine Kommunikationsstrategie bereit zu legen.

Die Schweiz als geschützter Markt

In der Schweiz wird derweil an der Geheimhaltung festgehalten. Die Entscheide des schweizerischen Heilmittelinstituts Swissmedic werden lediglich den Antragstellern mitgeteilt, die ihrerseits über eine Veröffentlichung entscheiden.

Zwar wird die überwiegende Mehrheit der Medikamente zugleich auch bei der EU angemeldet. Da die Verfahren für innovative Medikamente in der Schweiz jedoch wesentlich schneller gehen («fast track»-Verfahren innerhalb von drei bis fünf Monaten), ist die Schweiz gleichsam ein Testfeld.

Wird ein Medikament hier zugelassen, kommt es in der Regel zwei, drei Monate später auch in London zu einer Bewilligung. Abweichungen zwischen der Swissmedic und der EMEA gebe es praktisch nie, erklärt Thomas Cueni.

Zum vergleichsweise geschützten Umfeld trägt auch das Verbot von Parallelimporten bei. Obwohl die staatlich abgesegneten Medikamentenpreise so hoch sind wie in kaum einem anderen europäischen Land, sind Importe von patentgeschützten Medikamenten aus günstigeren Ländern untersagt.

EU will Liberalisierung



In Europa sind Medikamente längst Teil des Binnenmarktes und können, wenn sie einmal zugelassen sind, frei gehandelt werden. Zwischenhändler können die bestehenden Preisunterschiede in den fünfzehn Mitgliedstaaten nutzen und Medikamente in einem Land mit niedrigen Preisen kaufen, um sie in Hochpreisländern wieder zu verkaufen.

Vor wenigen Tagen munterte die EU-Kommission die Branche in einer speziellen Mitteilung gleichsam auf, vermehrt auf Parallelimporte zu setzen. «Der Parallelimport von Medikamenten ist eine rechtmässige Form des Handels im Binnenmarkt und liegt im Interesse der Patienten», erklärte der zuständige EU-Kommissar Frits Bolkestein.

Eine Haltung, die auch in der Schweiz allmählich Unterstützung findet. «Die Hochpreisinsel Schweiz würde abbröckeln und der Druck auf die Medikamentenpreise auch in der Schweiz spürbar zunehmen», sagt Jacqueline Bachmann vom Konsumentenschutz. Im neuen Kartellrecht wurde das Verbot jedoch auf Druck der bürgerlichen Parteien erneut festgeschrieben.

swissinfo, Katrin Holenstein

Die drei Schweizer Pharmaunternehmen Novartis, Roche und Serono erreichten 2002 einen weltweiten Umsatz von 30 Mrd. Dollar, was einem Marktanteil von ca. 7,5% entspricht.

Der Weltmarkt wird auf 400 Mrd. Dollar geschätzt.

Mehr als 90% der in der Schweiz hergestellten Medikamente sind für den Export bestimmt. Davon gehen 66% in die EU, und je 12% nach Asien und in die USA.

86% der importierten Medikamente stammen aus der EU.

Die Medikamentenpreise sind in der Schweiz zwischen 20 und 100% höher als in europäischen Nachbarländern

Der Anteil an günstigeren Generika ist in der Schweiz deutlich kleiner als in der EU oder den USA.

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