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Europa im Wandel – die Schweiz mitten drin

Die Schweiz verliert in Bezug auf die EU an Bedeutung, ist Franz Blankart überzeugt. swissinfo.ch

Seit dem 1. Mai zählt die EU 25 Mitglieder. Die Schweiz, im Herzen Europas gelegen, spielt weiterhin ein ambivalentes Spiel, wie Franz Blankart feststellt.

Der frühere Staatssekretär, der die Verhandlungen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) geleitet hatte, im Gespräch mit swissinfo.

Ein historisches Ereignis: Die Europäische Union (EU) zählt neu 25 Mitglieder. Am 1. Mai kamen 10 neue Staaten hinzu, 8 davon aus dem früheren Ostblock.

Derweil ist die Schweiz weiterhin daran, ein zweites Paket bilateraler Verträge mit der EU auszuhandeln. Nach dem Abschluss der Verhandlungen müssen die «Bilateralen II» jedoch vermutlich noch die Hürde eines Referendums überstehen.

Weiterhin bleibt die Schweiz zudem offiziell Beitrittskandidatin.

Um etwas mehr über dieses Europa im Wandel und die Lage der Schweiz zu erfahren, wandten wir uns an Franz Blankart. Der frühere Karrierediplomat und heutige Finanzfachmann Blankart, der auf den Bühnen der Macht zuhause ist, hat sich aus der «Realpolitik» zurückgezogen. Sein Denken ist von einer Distanz geprägt, welche historische und philosophische Erkenntnisse erlaubt.

swissinfo: Ist die Schweiz, bisher im Zentrum Europas, heute an den Rand gerückt?

Franz Blankart: Ganz klar. Genau so klar wie die Tatsache, dass nun Deutschland im geopolitischen Zentrum des Gemeinschaftlichen Europas steht.

Vergessen Sie nicht, dass die Stadt Prag westlicher liegt als Wien. Die Länder, die dem demokratischen und marktwirtschaftlich organisierten Europa beitreten, liegen in unserer Nähe. Ich empfand übrigens den Ausdruck «Osteuropa» in diesem Zusammenhang als verfehlt.

swissinfo: Wird die Schweiz zunehmend ausgegrenzt oder nimmt eher der Druck auf sie zu, sich der EU anzunähern?

F.B.: Für einige Länder, namentlich Deutschland, sind wir nicht mehr so wichtig wie vor dem Fall der Berliner Mauer. Damit müssen wir leben. Wir sind in Bezug auf die EU weniger wichtig, andererseits aber eröffnet sich uns ein grosser Markt, was sicherlich wirtschaftliche Vorteile bringen wird.

swissinfo: Die Osterweiterung stösst in der Schweiz auf Besorgnis. Insbesondere der freie Personenverkehr ängstigt sowohl linke Gewerkschaften wie auch rechtsstehende Nationalisten. Ist diese Sorge berechtigt?

F.B.: Nein, ich denke nicht. Denn die Freizügigkeit von Arbeitskräften ist nicht gleichbedeutend mit dem freien Zirkulieren von Arbeitslosen.

Sie schafft für Unternehmen vielmehr die Möglichkeit, jene Fachleute kommen zu lassen, die sie benötigen. Freizügigkeit bedeutet, «sich um eine ausgeschriebene Stelle zu bewerben», und wenn die betreffende Person diese Stelle nicht erhält, muss sie in ihr Ursprungsland zurückkehren.

Die Ökonomen sind einhellig der Ansicht, dass voraussichtlich 1% der Personen im erwerbsfähigen Alter ihr Land verlassen, um in einem anderen EU- oder EWR-Land oder in der Schweiz zu arbeiten. Das ist sehr wenig.

swissinfo: In diesem Zusammenhang könnte das Referendum ergriffen werden und die gesamten Bilateralen I gefährden. Auch gegen die Bilateralen II ist ein Referendum nicht ausgeschlossen. Bestärkt Sie das in Ihrer Meinung, dass die Bilateralen ohnehin nie eine gute Lösung waren?

F.B.: Die Bilateralen Verträge waren eine der möglichen Lösungen nach der Ablehnung des EWR, dem wir übrigens auch heute noch beitreten könnten, wenn der politische Wille hierfür existierte.

Es ist klar, dass der EWR «billiger» gewesen wäre als die Bilateralen Verträge und uns auch mehr gebracht hätte als diese. Aber das ist der Preis, den wir dafür bezahlen müssen, dass wir eine Chance verpasst haben.

swissinfo: Wie wird es nach Abschluss der Bilateralen II weitergehen?

F.B.: Gegen die Bilateralen II könnte in der Tat das Referendum ergriffen werden. So oder anders wird sich die Schweiz für die eine oder andere Lösung entscheiden müssen. Entweder tritt sie der EU bei, oder sie zieht ihr Beitrittsgesuch zurück.

Ich glaube nicht, dass wir noch lange in der heutigen zweideutigen Situation leben können, nämlich als Land, das ein Beitrittsgesuch hinterlegt hat, in Wirklichkeit aber gar nicht Mitglied werden will. In der Diplomatie zahlen sich Zweideutigkeiten dieser Art langfristig nicht aus.

Die EU nimmt das Beitrittsgesuch der Schweiz nicht ernst. So wurden wir, anders als die übrigen Kandidatenländer, nicht zur europäischen verfassungsgebenden Versammlung eingeladen.

Gleichzeitig nimmt uns die EU aber beim Wort und sagt: «Wenn Sie schon Mitglied der Union werden wollen, dann übernehmen Sie auch den Acquis communautaire» (den gemeinschaftlichen Rechtsbestand).

swissinfo: Die Berliner Mauer fiel 1989, vor 15 Jahren. Acht Länder des ehemaligen Ostblocks werden in die EU integriert. Welche Gedanken löst diese Entwicklung bei Ihnen aus?

F.B.: Dieses Ereignis ist das Ende des Zweiten Weltkrieges. General Marshall hatte in seinem Plan den europäischen Ländern Hilfe angeboten, unter der Bedingung, dass sie sich zur OECE, der heutigen OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Red.) zusammenschliessen, gegenseitigen Freihandel und den freien Kapitalfluss schaffen.

Die UdSSR verbot damals ihren Satelliten das Mitmachen. Heute haben diese die Möglichkeit, dem Vereinigten Europa beizutreten. Das ist natürlich eine geschichtliche Tatsache von wesentlicher Bedeutung.

swissinfo: Die langfristige historische Logik ist also entscheidend. Dabei glaubt man im Allgemeinen, dass die Wirtschaft der wichtigste Architekt Europas sei.

F.B.: Die EU begann zwar mit der Wirtschaft, immer aber mit einem politischen Ziel. Dies im Gegensatz zur Schweiz von 1848, die ihre Einheit mit politischen Elementen begann und die Harmonisierung des Rechts auf später verschob, eine Harmonisierung, die bis heute nicht vollständig erreicht ist.

swissinfo: Die Schweiz hat in Bezug auf die Geschichte noch einen anderen Reflex: Ihr Widerstand gegen die grossen politischen Bewegungen des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Das ist jedenfalls die These, welche Sie 2002 in Ihrer Abschiedsrede am HEI, dem Genfer Hochschulinstitut für internationale Studien, vertreten haben.

F.B.: Die Länder, die jetzt der EU beitreten, haben immer in einem Staatenkollektiv gelebt, denken Sie an das österreichisch-ungarische Kaiserreich. Die Schweiz dagegen hat sich langsam vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation emanzipiert und weiter entwickelt.

Würde sie der EU beitreten, wäre dies die Wende ihrer Geschichte, die Wiedereingliederung der Schweiz ins Heilige Römische Reich – nicht mehr deutscher, sondern europäischer Nation.

swissinfo: Sie sagen aber: «Unsere Zukunft ist Europa, ein föderalistisches Europa, und zwar aus historischen und nicht aus wirtschaftlichen Gründen.» Für Sie ist die Richtung also klar.

F.B.: Ja. Aber das braucht Zeit. Damit unser Beitritt glaubwürdig ist, muss er von einer Grundwelle in der Bevölkerung getragen werden: vom Willen, am politischen Aufbau Europas teilzunehmen.

Jedes wirtschaftliche Ziel hat einen wirtschaftlichen Preis, jedes politische Ziel hat einen politischen Preis. Was ich immer abgelehnt habe, ist, für ein wirtschaftliches Ziel einen politischen Preis zu zahlen.

swissinfo: Die Integration scheint einige Leute in der Schweiz erneut zu reizen. Eine Folge namentlich des Drucks von Seiten Europas in den letzten Monaten und der wirtschaftlichen Stagnation unseres Landes. Das wären also die falschen Gründe?

F.B.: Aus Fatalismus der EU beizutreten, oder um zwei, drei Schikanen an der deutschen Grenze zu vermeiden oder um eine Diskriminierung abzuwenden: Solche Gründe würden nicht ausreichen, um EU-Mitglied zu werden.

swissinfo: Wir müssen uns «vom Trauma der Ursächlichkeit befreien», um uns der «Causa finalis» (des Endziels) unseres Kontinents bewusst zu werden, wie Sie in dieser Rede sagten. Die Philosophie in die politisch-wirtschaftliche Realität einzubringen, scheint mir recht kühn.

F.B.: Wissen Sie, jetzt, da ich nicht mehr im Amt bin, kann ich es mir leisten, den Eindruck – ob falsch oder richtig – zu erwecken, nicht mehr ein Mann der Praxis zu sein, sondern ein Intellektueller, der sich für Europa interessiert.

swissinfo: Ist es wirklich die Haltung eines Philosophen, sich nach wie vor so stark in Finanz und Wirtschaft zu engagieren, obwohl Sie offiziell pensioniert sind?

F.B.: Ich habe Philosophie studiert. Wie nicht jeder Theologiestudent ein Heiliger ist, wird auch nicht jeder Philosophiestudent unbedingt ein Philosoph.

swissinfo-Interview, Bernard Léchot
(Übertragung aus dem Französischen: Charlotte Egger)

Am 1. Mai ist die Europäische Union von 15 auf 25 Mitglieder angewachsen.
Die neuen Mitgliedstaaten sind Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, die Slowakei, Slowenien, die Tschechische Republik, Ungarn und (der griechische Teil) Zypern.

Frank Blankart wurde 1936 geboren, er verbrachte Kindheit und Jugend in Basel.

Er studierte Philosophie, Deutsch, Kunstgeschichte, Wirtschaft und Rechtswissenschaften in Basel, Paris, Exeter und Bern.

1965 trat er in den diplomatischen Dienst ein. Er wurde Erster Sekretär der Schweizer Mission bei der EG in Brüssel (1970-1973). Danach kehrte er nach Bern zurück und leitete bis 1980 das Integrationsbüro.

Von 1980 bis 1984 war er bevollmächtigter Botschafter in Genf und mit den Beziehungen zu EFTA, GATT, UNCTAD und UN/ECE betraut.

Von 1986 bis 1998 amtete er als Staatssekretär und Direktor des Bundesamtes für Aussenwirtschaft.

Zwischen 1990 und 1992 war er Chefunterhändler bei den EFTA/EG-Verhandlungen über den Vertrag über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR).

Im weiteren unterrichtete er ab 1974 am Hochschulinstitut für europäische Studien in Genf, danach bis 2002 am Genfer Hochschulinstitut für internationale Studien.

Zur Zeit ist er Associé commanditaire bei der Banque Mirabaud in Genf, gehört dem Universitätsrat der Universität Basel an und ist Mitglied im Ethik-Komitee der Société générale de surveillance (SGS).

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