Europa muss nicht Englisch sprechen
Kann Europa seine Sprachenvielfalt behalten und Nutzen daraus ziehen, oder braucht es eine Lingua franca? Ein Forschungsprojekt , das von der Schweiz aus koordiniert wird, sucht nach Antworten.
Konkret soll es den europäischen Politkern wissenschaftliche Argumente für den Umgang mit Europas Sprachen-Vielfalt liefern.
In der Bibel wird der Turmbau zu Babel als Konstrukt für die Erklärung der «Sprachverwirrung» benutzt. Bekanntlich führte diese Verwirrung zum Scheitern des Bauprojektes.
Vor einem ähnlichen Problem steht auch die Europäische Union. Mit jedem neuen Mitglied kommt eine weitere Sprache dazu. Im Moment sind es 21. Führt das nun zu einer babylonischen Sprachverwirrung, bei der die Union Schaden nimmt, oder kann diese Sprachvielfalt gar ein Vorteil und kein Hindernis sein?
Zu dieser Frage will das europäische Forschungsprojekt DYLAN in den kommenden fünf Jahren Antworten liefern.
Beteiligt sind mehrere Universitäten aus der EU. Das Nicht-EU-Mitglied Schweiz ist mit den Unis aus Basel, Genf und Lausanne vertreten. Die Koordination hat Lausanne übernommen.
Wissensgesellschaft ist komplexer geworden
Professor Georges Lüdi ist Leiter des Departments Sprach- und Literaturwissenschaften am Institut für Französische Sprach- und Literaturwissenschaften der Universität Basel. Er ist Mitkoordinator von DYLAN und sagt gegenüber swissinfo, dass das Forschungsprojekt der EU Grundlagen für eine flexiblere Sprachenpolitik liefern soll.
Das Forschungsprojekt fragt nach der Dynamik und Handhabung der Sprachenvielfalt in einer zusehends auf Wissen basierten Gesellschaft. Doch was heisst das? «Dieser Satz richtet sich eigentlich an die Geldgeber der EU. Dort ist Wissensgesellschaft ein Schlagwort», sagt Georges Lüdi.
«Aber es steckt schon etwas dahinter.» Nämlich, dass über Jahrhunderte hinweg Wissen und Können beim «in die Lehre gehen» erworben wurde. Der Meister gab sein Wissen dem Lehrling weiter. Das lief mit relativ wenigen Worten und Erklärungen, aber mit viel praktischer Arbeit ab.
«Heute sind wir soweit, dass in den meisten Berufen lange Erklärungen notwendig, Handbücher, Computer abzurufen sind. Die heutige Wissensgesellschaft ist auf komplexes, sprachlich artikuliertes Wissen angewiesen.»
Welche Sprache?
Doch welche Sprache vermittelt in Europa, in der EU, dieses Wissen? Sind es alle rund 20 Sprachen oder ist es Englisch, das sich mehr und mehr zur Lingua franca (Einheitssprache) entwickelt? Soll denn die Studie Gegenargumente zum Englischen als einzige EU-Amts-Sprache liefern?
«Die offizielle Meinung der EU ist klar. Sie befürwortet die Sprachenvielfalt. Das sei wichtig für die europäische Identität», sagt Lüdi. Aber im Grunde genommen habe die Union ein Problem mit den über 20 Amtssprachen. Allein die Übersetzungskosten würden sich auf rund 1 Mrd. Euro belaufen.
Doch welche Sprachen sollen dann als Arbeitssprachen übrig bleiben? «Es gibt ein Unbehagen dem Mc-Donalds-Englisch (rudimentäres Englisch) gegenüber. Und unsere Studie soll nun rationale Grundlagen zu einer besseren Sprachpolitik liefern, in der nicht nur Englisch (meist schlecht gesprochen) im Vordergrund steht.»
Schweiz als Testmodell
Das Forschungsprojekt ist eben angelaufen. Resultate liegen demgemäss noch keine vor. Einzig Zielvorgaben gibt es. Eine davon ist die Frage: Müssen alle die selbe Sprache sprechen, um sich zu verstehen?
Hier bietet die mehrsprachige Schweiz bereits Anhaltspunkte. Gemäss Professor Lüdi, der auch in Sprachprojekten der Schweiz federführend ist, gilt in der Schweiz in politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gremien die Formel, dass jeder in seiner Sprache spricht.
Diese Erfahrung sei jedoch für viele Funktionäre in der EU neu, und der Hinweis, dass dies in der Schweiz funktioniere, erstaune, sagt Lüdi. «Europa hat damit noch wenig Erfahrung.»
Es werde jetzt versucht, diese Erfahrung nach Europa zu tragen. Das Sprachprojekt soll zeigen: Es gibt Alternativen zum «nur Englisch» und es gibt bessere Alternativen.
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Vielsprachigkeit
Nicht 20 Sprachen
In der EU gilt die Regel: Drei Sprachen sprechen. Die eigene, eine Nachbarsprache und Englisch. Deshalb wird im Forschungsprojekt nach Sprachgruppen gesucht, die näher beisammen liegen. Wer Französisch spricht, wird auch Spanisch, Italienisch und auch Portugiesisch eher verstehen – Betonung auf verstehen.
Für Lüdi eine Erweiterung des Schweizer Modells. Auf Europa gemünzt könne das – etwas utopisch zwar – heissen: Eine germanische, eine lateinische und eine slawische Sprache verstehen, dann würde die kommunikative Reichweite in Europa enorm zunehmen.
Aufhören müsse dann aber, dass die Intelligenz einer Person nach der Qualität der Fremdsprachenkenntnis beurteilt werde. Oder English ausgedrückt: «I thought you were as stupid as your English.»
swissinfo, Urs Maurer
Aller Bemühungen zum Trotz: Die Studie über die Sprachenvielfalt heisst DYLAN, und das ist Englisch: «Language dynamics and management of diversity».
DYLAN ist das erste – innerhalb des 6. Rahmenprogramms der EU – finanzierte, integrierte Forschungsvorhaben in Geistes- und Sozialwissenschaften, das von der Schweiz aus koordiniert wird.
Die Leitung hat die Universität Lausanne mit Prof. Anne-Claude Berthoud. Die weiteren Mitglieder der Leitungsgruppe sind Prof. Georges Lüdi, Universität Basel, und Prof. François Grin, Universität Genf.
In der Schweiz untersucht das Nationale Forschungsprogramm NFP 56 (Sprachenvielfalt und Sprachkompetenz in der Schweiz) bis April 2008 die gelebte Mehrsprachigkeit in der Schweiz.
Bei DYLAN arbeiten über 100 Forscherinnen und Forscher aus 19 Hochschulen in 13 Ländern mit.
Vereint sind 13 offizielle Sprachen.
Die EU hat 5 Mio Euro (ca. 7,5 Mio. Franken) zur Verfügung gestellt. Die beteiligten Universitäten tragen etwa gleich viel bei.
DYLAN dauert 5 Jahre.
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