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Familienpolitik im Interesse der Arbeitgeber

Familie ist in der Schweiz Privatsache. swissinfo.ch

Familienpolitisch ist die reiche Schweiz ein Entwicklungsland. Doch seit die Arbeitgeber die ökonomische Bedeutung der Familien entdeckt haben, geht es familienpolitisch vorwärts.

Der Nachholbedarf ist gross. Knappe Finanzen drohen die Reform zu verzögern.

Geht es um Wirtschaft, Forschung oder Bildung, dann belegt die Schweiz gerne Spitzenplätze, und bei Abweichungen gegen unten heulen sofort die Alarmsirenen. Nicht so bei der Familienpolitik: «Im europäischen Vergleich steht die Schweiz so ziemlich am Schluss der Rangliste», erklärt Jacqueline Fehr, Nationalrätin und Vizepräsidentin von Pro Familia.

Am auffälligsten ist dieser Rückstand bei der Mutterschafts-Versicherung: Die Schweiz ist das einzige Land in Europa ohne gesetzlich geregelte Mutterschafts-Versicherung. Ein grosser Nachholbedarf besteht aber auch bei den ergänzenden Betreuungsangeboten oder bei den Familienzulagen.

«Die Familie wird in der Schweiz nach wie vor als eine Privatangelegenheit betrachtet, in die sich der Staat – wenn immer möglich – nicht einmischen soll», sagt Jürg Krummenacher, Präsident der Eidgenössischen Kommission für Familienfragen (EKFF). Es sei deshalb weitgehend Sache der Familie, ob sie über die Runden komme oder nicht.

Familienpolitische Koalition

Die Sozialdemokratin Fehr ist Initiantin des achtjährigen Impulsprogramms zur Förderung von externer Kinderbetreuung. Seit Februar 2003 stehen jährlich 50 Mio. Franken bereit, damit zusätzliche Plätze in Krippen, Horten und Tagesschulen geschaffen werden können.

Damit hat der Bund seit langem wieder eine neue Aufgabe im Sozialbereich angepackt. Noch vor wenigen Jahren wäre ein solches Vorhaben fast unausweichlich gescheitert.

Den Grund für den Erfolg sieht Fehr im Umstand, dass sich neben der SP und der CVP nun auch andere Kreise familienpolitisch engagieren. «Es gibt eine Art Koalition zwischen familienpolitischen Verbänden und Arbeitgeberverbänden, welche die Notwendigkeit einer verbesserten Familienpolitik unterstreicht.»

Das plötzliche Interesse an der Familienpolitik hat nicht nur sozialpolitische, sondern auch ökonomische Gründe. «Weil immer mehr Frauen beruftätig sind, haben die Arbeitgeber ein Interesse daran, dieses Potential besser zu nutzen», erklärt Krummenacher.

Zwar sei die Wirtschaft nicht verantwortlich für die Familie, betont Gewerbeverbands-Direktor Pierre Triponez. «Doch mit der zunehmenden Erwerbstätigkeit der Frauen steigt auch die Verantwortung der Arbeitgeber. Deshalb müssen wir Lösungen finden, welche die Erwerbsarbeit der Frauen erleichtert.»

Arbeitgeber als Geburtshelfer

Auf den FDP-Nationalrat Triponez geht auch die neue Initiative für eine Mutterschafts-Versicherung zurück. Das «Modell Triponez» sieht die Fortzahlung von 80% des Lohnes während 14 Wochen vor.

Die Chancen stehen sehr gut, dass die Mutterschafts-Versicherung bereits 2004 in Kraft gesetzt werden könnte. Damit würde mit Hilfe der Arbeitgeber verwirklicht, wofür viele Frauen und Sozialpolitiker 50 Jahre lang gekämpft haben.

Streitpunkt Finanzierung

Die Allianz zwischen familienpolitischen Organisationen und Arbeitgeberverbänden stösst aber schnell an Grenzen, wenn es um die Finanzierung weitergehender Massnahmen geht.

Die EKFF sieht die Bekämpfung der Familienarmut als dringendstes Problem. Sie möchte deshalb das «Tessiner Modell» der Ergänzungsleistungen in eine Bundeslösung überführen. Laut EKFF würde damit die Familienarmut halbiert.

Hinzu käme ein Bundesgesetz für Familienzulagen. Gefordert wird eine einheitliche Kinderzulage von mindestens 200 Franken und eine Ausbildungszulage von 250 Franken. Alle familienpolitischen Organisationen sowie die beiden Bundesratsparteien CVP (Christdemokraten) und SP (Sozialdemokraten) stehen hinter diesen Forderungen.

Die Arbeitgeber möchten die Familien jedoch lieber durch tiefere Steuern entlasten. Denn schon heute geschieht die Finanzierung der Familienzulagen ausschliesslich über Arbeitgeberbeiträge, was die Arbeitgeber 1,7% der Lohnsumme kostet.

Die Kosten für die von der EKFF favorisierten Familienzulagen würden sich laut Bundesamt für Sozialversicherung auf jährlich 5,1 Mrd. Franken belaufen. Das sind 2,1% der gesamten Lohnsumme.

«Die Arbeitgeber sind nicht für die Zahl der Geburten in diesem Land verantwortlich», wehrt sich Triponez. «Wenn man die Situation der Familien verbessern will, darf dies nicht ausschliesslich auf Kosten der Arbeitgeber geschehen.»

Eine Parlamentskommission arbeitet zurzeit an einen Kompromiss. Laut Anouk Friedmann von der EKFF stehen die Chancen gut, dass dieser von den Arbeitgebern unterstützt wird. Zuviel Optimismus ist indes fehl am Platz.

«Wir haben auf nationaler Ebene politische Siege erringen können», sagt Lucrezia Meier-Schatz, CVP-Nationalrätin und Generalsekretärin von Pro Familia. Sie befürchte aber wegen der Finanzsituation des Bundes eine Verzögerung der Vorhaben. «Im Moment ist Schwung drin, aber wie lange ist eine offene Frage.»

swissinfo, Hansjörg Bolliger und Vanda Janka

Der 15. Mai ist der internationale Tag der Familie.

Die schweizerische Familienpolitik ist stark föderalistisch strukturiert. Der Bund hat nur wenig familienpolitische Kompetenzen.

Familienzulagen sind von den Kantonen geregelt, es gibt kein einheitliches Bundesgesetz. Wird die Erwerbstätigkeit aufgegeben, entfallen auch die Familienzulagen.

Bei den Kinderzulagen bestehen rund 50 verschiedene Systeme. Die Höhe der Zulage variiert zwischen 150 Franken im Monat in Zürich und 344 Franken im Kanton Wallis. Für Kinder in Ausbildung sind es zwischen 175 und 444 Franken pro Monat.

Die Finanzierung der Familienzulagen geschieht ausschliesslich über Arbeitgeberbeiträge.

Rund 300’000 Kinder erhalten keine oder nur eine reduzierte Familienzulage. Das sind 17% der Kinder in der Schweiz.

Über 100’000 Kinder wachsen in der Schweiz in armen Verhältnissen auf.

Tessiner Modell

Das «Tessiner Modell» kommt im Frühjahr 2004 ins Parlament. Es sieht neben Kinderzulagen Ergänzungsleistungen für bedürftige Familien vor.


Kinderkosten

Kinder belasten das Familienbudget stark. 1994 verursachte ein Kind – über alle Altersstufen verteilt – durchschnittlich 1100 Franken an direkten Kosten pro Monat. Für das erste Kind sind es 1450 Franken, für jedes weitere Kind 700 Franken.

Mutterschaftsschutz

Es besteht ein Arbeitsverbot während acht Wochen nach der Geburt. Während der gesamten Schwangerschaft und 16 Wochen nach der Geburt besteht ein Kündigungsschutz.

1999 wurde die Einführung eine Mutterschafts-Versicherung in einer Referendumsabstimmung abgelehnt.

Modell Triponez

Fortzahlung von 80% des Lohnes während 14 Wochen für alle erwerbstätigen Mütter.

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