Frühwarn-System gegen Fremdenfeindlichkeit
Die Schweiz hat ein Instrument zur Überwachung von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus entwickelt. Damit kann sie sich mit Europa vergleichen.
Mehr als die Hälfte der Schweizer Bevölkerung hat Vorurteile gegenüber Fremden, wie ein erster Test zeigt. 77% jedoch wünschen eine bessere Integration. Rund 7% haben rechtsextremes Gedankengut, 90% lehnen es ab.
«Wir hatten keine gesicherten Fakten über Rechtsextremismus. Wir mussten uns auf die Studien der Medien stützen. Endlich stehen wir gegenüber unseren europäischen Kollegen und dem Menschenrechtsrat der UNO gut da», begrüsst Michele Galizia, Chef der Fachstelle für Rassismusbekämpfung im Departement des Innern, diese Premiere.
Die Regierung entschloss sich erst nach einer Zunahme der rechtsextremen Gewalt zum Handeln. Aber um der Plage beizukommen, brauchte es erst Diagnose-Möglichkeiten.
Das ist nun geschehen. Der Fachbereich Soziologie der Universität Genf hat ein Instrument entwickelt, welches die Messung und Zunahme von fremdenfeindlichen und rechtsextremen Haltungen erlaubt.
Der Schweizerische Nationalfonds (SNF) publizierte dieses Wochenende eine erste Studie mit diesem euro-kompatiblen Messinstrument.
Von der Toleranz zum Konservativismus
Sind die Schweizerinnen und Schweizer menschen- und fremdenfeindlicher als ihre Nachbarn? «Wie fast immer befinden wir uns im Mittelfeld», antwortet Simone Prodolliet, Sekretärin der Eidgenössischen Ausländerkommission (EKA).
Nach den 3000 Befragungen hat das Team von Professor Sandro Cattacin 85% der schweizerischen und ausländischen Bevölkerung in vier Kategorien eingeteilt.
Zur «kreativen Klasse» gehören 37%. Diese ist tolerant und lehnt jede Gewalt und Intoleranz ab. Ihr gehören Städter, Kultivierte und eher Junge an. Politisch steht sie eher links.
Die «konservativen Nationalisten» (23%) äussern deutlich ihre menschen- und fremdenfeindliche Haltung.
Sie stehen politisch rechts, sind eher gläubig, weniger kultiviert und haben Angst vor der Zukunft. Diese Klasse macht den Forschern weniger Sorge. Sie ist gesellschaftsfähig und will Ordnung, respektiert aber teilweise die Anwendung von Gewalt.
Die «liberalen Unternehmer» (16%) haben Angst vor Ausländern, akzeptieren aber die Unterschiede und sind nicht menschenfeindlich. Sie entscheiden sich für Recht und Ordnung, stehen politisch eher rechts und haben volles Vertrauen in den freien Markt.
Die Versuchung der Gewalt
Bei den «desorientierten Traditionalisten» (9%) sind menschen- und fremdenfeindliches Verhalten dominant. Sie gehören keiner politischen Gruppierung an, haben Angst vor der Zukunft und können sich den Einsatz von Gewalt gut vorstellen.
Gemäss Sandro Cattacin gibt es bei dieser letzten Gruppe Probleme, da dieser viele von der Gesellschaft ausgeschlossene Personen angehören. Zwischen 3,8 und 7% der Bevölkerung gehören dieser rechtsextremen Bewegung an, welche von 90 % der Befragten abgelehnt wird.
Auf der anderen Seite bezeichnen sich 23% der Befragten selbst als fremdenfeindlich. Sandro Cattcin sieht diese Zahl als Folge der Angriffe gegen die Schweiz in der Affäre der nachrichtenlosen Vermögen und der aktuellen Situation im Nahen Osten.
Ambivalenz im Angesicht des Anderen
Im ganzen gesehen können mehr als die Hälfte der befragten Personen als fremdenfeindlich bezeichnet werden. 77% wünschen jedoch eine bessere Integration der Minderheiten und 55% eine vereinfachte Einbürgerung von ausländischen Personen.
Wie lässt sich dies erklären? «Dies reflektiert ausgezeichnet die Ambivalenz der Schweizer gegenüber Fremden», antwortet Simone Prodolliet.
Für den Studienleiter Sandro Cattacin beweist das «die Reife der Schweizer, dass sie sich der Migration bewusst sind. Trotz ihrer Angst vor dem Andern erkennen sie an, dass die Fremden am Aufbau der Schweiz beteiligt sind», erklärt er gegenüber swissinfo.
Der Ball liegt bei der Politik
«Das wäre ein exzellentes Alarmsystem für den nationalen Zusammenhalt. Würde man die Untersuchung alle zwei Jahre durchführen, könnte man die Unterschiede in der sozio-ökonomischen Konjunktur erkennen», sagt Cattacin.
Der Ball liegt nun in den Händen der Politik. Gemäss Michele Galizia wird es nötig sein, «diese Studie anzugehen, zu analysieren und daraus eine echte Überwachung zu machen, die uns erlaubt, zeitliche Vergleiche anzustellen».
Ideal für diese Erhebungen wäre laut Cattacin dieses Monitoring-Instrument, das ähnlich einzusetzen wäre wie die Analyse von Abstimmungs-Resultaten: Verschiedene Meinungsforschungs-Institute würden im Turnus die Daten erheben und sie um aktuelle Fragestellungen ergänzen.
«Man wird versuchen müssen, die Kosten dieser systematischen und regelmässigen Beobachtung unter den verschiedenen Bundesämtern aufzuteilen», schliesst Michele Galizia,
swissinfo, Isabelle Eichenberger
(Übertragung aus dem Französischen: Etienne Strebel)
Mit positiv formulierten Fragen haben die Forscher 3000 Menschen befragt, darunter auch in der Schweiz lebende Ausländerinnen und Ausländer,
90% der Befragten lehnten den Rechtsextremismus ab. 77% wünschten sich eine bessere Integration von Minderheiten und 55% eine vereinfachte Einbürgerung.
Die Menschenfeindlichkeit zeigt sich bei der Ablehnung von Minderheiten wie Behinderten, Frauen, Homosexuellen, Juden, Muslimen und Obdachlosen.
Der Fremdenhass schliesst die Angst oder die Zurückweisung von Migranten ein.
Die Studie wurde im Rahmen des Nationalfondsprojekts (PNR40+) «Gewalt im Alltag und organisierte Kriminalität» realisiert.
Dieses Programm untersucht die Zusammenhänge von Bildung, sozialem Profil und der Ausbreitung von Rechtsextremismus in der Schweiz.
Besorgt wegen des Anstiegs rechtsextremistischer Gewalttaten iniziierte der Bundesrat das Programm «Rechtsextremismus – Ursachen und Gegenmassnahmen» mit einem Nachtragskredit in der Höhe von 4 Mio. Franken, verteilt auf drei Jahre.
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