Genitalverstümmelung am Pranger
Eine Umfrage des UNO-Kinderhilfswerks unter Fachpersonen in der Schweiz lässt aufhorchen: 29% haben bereits eine beschnittene Frau behandelt.
UNICEF Schweiz verlangt nun Massnahmen auf medizinischer und juristischer Ebene: Geschäftsführerin Elsbeth Müller im Gespräch mit swissinfo.
Jedes Jahr werden in Afrika und einigen anderen Weltregionen rund zwei Millionen Mädchen einer Beschneidung unterzogen. Weltweit schätzt UNICEF, dass mehr als 130 Millionen Frauen und Mädchen an ihren Genitalien verstümmelt sind.
Bevölkerungswachstum und Migration tragen dazu bei, dass auch Fachleute in Europa und der Schweiz damit konfrontiert werden. Eine Studie der Schweizer Sektion des UNO-Kinderhilfswerks zeigt nun ein erschreckendes Bild: 518 der rund 1800 befragten Fachpersonen haben schon einmal mit einer verstümmelten Frau zu tun gehabt.
swissinfo: Elsbeth Müller, was bedeutet die Umfrage zahlenmässig?
Elsbeth Müller: Wenn man die Zahlen hochrechnet, leben etwa 7000 Frauen in der Schweiz, die beschnitten sind.
swissinfo: In welcher Art werden die Fachpersonen damit konfrontiert?
E.M.: Was wir zunehmend feststellen, ist, dass Gynäkologinnen, Gynäkologen und Hebammen von Frauen angegangen werden mit der Frage, wo Kinder in der Schweiz beschnitten werden können.
Sehr viele der Befragten wissen um Mädchen, die beschnitten worden sind oder wo der Versuch der Beschneidung ein zentrales Anliegen war. Diese Zahl ist gestiegen, und das ist etwas, was uns sehr überrascht hat.
swissinfo: Welche Länder, Altersgruppen sind besonders betroffen?
E.M.: Es sind in der Schweiz vor allem somalische, äthiopische und eritreische Frauen betroffen. Das hat damit zu tun, dass von diesen Ländern grössere Gruppen von Menschen in der Schweiz leben.
Die meisten sind zwischen 19 und 34, weil sie in dieser Zeit im gebärfähigen Alter sind und zu Gynäkologen und Hebammen gehen.
swissinfo: Was bedeutet die Beschneidung für die betroffene Person?
E.M.: Die Beschneidung ist ein schmerzvoller Eingriff, ein physischer und psychischer Angriff auf ihre Integrität als Frau oder Mädchen.
Aber es geht natürlich viel weiter: Frauen, die beschnitten sind, leiden ein Leben lang. Sie haben Probleme in Bezug auf Harnwegs-Infektionen, müssen vermehrt mit Fisteln und Menstruationsproblemen rechnen.
Dazu kommt die stark verminderte sexuelle Empfindung, die mit dem Wegschneiden der Klitoris einher geht. Häufig stirbt auch ein Kind oder die Frau selber bei einer Geburt, weil diese dann sehr lange dauern kann.
swissinfo: Wie sieht der Vergleich zu anderen Ländern in Europa aus?
E.M.: Das ist schwierig zu vergleichen. Unsere Kollegen in Deutschland sind daran, das Ausmass in ihrem Land mit einer ähnlichen Studie zu eruieren.
Das Thema hat in allen Ländern seit etwa fünf Jahren stark an Prägnanz gewonnen. Alle Länder sind betroffen, weil die Migration alle Länder trifft. Und weil unterdessen auch mehr Frauen aus diesen Ländern in europäische Staaten emigrieren.
swissinfo: Was unternimmt das Kinderhilfswerk UNICEF nun konkret?
E.M.: International hat sich UNICEF ganz klar zur Nulltoleranz geäussert. Wir werden alles unternehmen, dass die Mädchenbeschneidung in allen Ländern verboten und strafbar wird.
Mit Programmen wollen wir Aufklärung und Information betreiben, damit die Menschen den Zusammenhang zwischen der Beschneidung und deren Folgen erkennen. Da besteht eine grosse Wissenslücke.
Dann geht es darum, einkommenssichernde Programme für die Beschneiderinnen anzubieten, wenn sie ihren Beruf aufgeben.
Auch in der Schweiz gilt es, aufzuklären. Doch auch die rechtliche Situation, in der Menschen stehen, die eine Beschneidung in der Schweiz ermöglichen oder Mittäter sind, muss geklärt werden.
swissinfo: Welchen Handlungsbedarf sehen Sie in der Schweiz aus medizinischer Sicht?
E.M.: Das medizinische Personal muss über die Problematik und deren Konsequenzen informiert werden. Was ist kulturell bedingt, was ist menschenrechtsbedingt?
Es sollten Handlungs-Anweisungen bestehen in Bezug auf die rechtliche Situation, in der sie sich befinden. Wir sind mit anderen Organisationen daran, entsprechende Richtlinien zu erstellen. Diese gilt es dann unter das medizinische Personal zu bringen.
Fragen wie: Wohin kann ich mich wenden, wo und wann mache ich mich in welcher Art strafbar? Aber auch: Wie kann ich helfen? Was kann ich tun, wenn ich weiss, dass ein Mädchen beschnitten werden soll? Kann ich von meinem Arztgeheimnis entbunden werden? Das sind wichtige Informationen für Ärzte und Hebammen.
swissinfo: Was fordern Sie aus juristischer Sicht?
E.M.: Mädchenbeschneidung steht in der Schweiz unter Strafe. Dasselbe gilt für die Mittäter wie beispielsweise die Eltern. Auch wenn ein Mädchen zur Beschneidung ausser Landes gebracht wird, sofern dies im Land, in welches das Mädchen gebracht wird, verboten ist.
swissinfo: Eine Familie, die nach Somalia geht, kann also nicht belangt werden?
E.M.: Im Moment nicht im Sinne der Mittäterschaft. Aber selbstverständlich gilt, dass dies im Sinne der rechtlichen Situation genauer angeschaut würde.
swissinfo: Die Beschneidung geschieht ja meist im Namen der Religion. Wie sieht es mit der Religionsfreiheit aus?
E.M.: Die Mädchenbeschneidung ist an keine Religion gebunden, das möchte ich betonen. Es gibt gewisse Hinweise, dass es immer wieder mit Religion gekoppelt wird. Meistens von religiösen Eiferern.
Doch es ist vielmehr die jahrhundertealte Tradition, die zur Beschneidung führt. Das sind soziale, gesellschaftliche und gesundheitliche Fragestellungen, die ins Feld geführt werden.
swissinfo: Wie sieht die Problematik betreffend Menschenrechte aus?
E.M.: Die Mädchenbeschneidung ist eine Kinder- und Menschenrechts-Verletzung. Jedes Kind hat das Recht auf die Integrität seines Körpers. Wenn nun sein Körper in einem Masse beschnitten wird, die mit der Möglichkeit verbunden ist, daran zu sterben, kann diese Tradition nicht mit den kulturellen Hintergründen begründet werden.
Ausser Somalia und den USA haben weltweit sämtliche Länder die UNO-Kinderrechts-Konvention unterzeichnet. Es ist die Pflicht jedes Landes dafür zu sorgen, dass die Kinder auf seinem Territorium vor Mädchenbeschneidungen geschützt werden.
swissinfo-Interview: Christian Raaflaub
1799 Fachpersonen (Gynäkologinnen, Gynäkologen, Hebammen, Kinderärzte und Sozialstellen) haben an der Umfrage teilgenommen.
Davon haben 518 Personen mit beschnittenen Frauen zu tun gehabt.
203 Personen haben schon von Fällen gehört, bei denen ein Mädchen in der Schweiz beschnitten worden sei.
Zwei Hebammen, drei Gynäkologen und ein Kinderarzt wurden sogar selber gebeten, eine Beschneidung an einem Mädchen oder einer Frau durchzuführen.
Am 6. Februar ist der internationale Tag der Nulltoleranz gegenüber Genitalverstümmelung an Frauen.
Beschneidungen oder Genitalverstümmelungen an Frauen sind nicht nur ein Problem in Afrika. Auch die Schweiz ist durch die Migration davon betroffen.
Im Vergleich zur Beschneidung von Jungen entspricht die Beschneidung bei Mädchen einer Amputation. Bei der Verstümmelung wird den Mädchen die Klitoris und teilweise die Schamlippen abgeschnitten und die Scheide zugenäht.
Viele Volksgruppen, welche die Beschneidung praktizieren, berufen sich auf ihre Tradition. Es gibt allerdings keine religiöse Vorschrift.
In Frankreich sind mehrere Eltern zu Gefängnisstrafen verurteilt worden, in Deutschland wurde einer Mutter das Sorgerecht entzogen, um ihre Tochter vor einer rituellen Verstümmelung zu schützen. In der Schweiz ist kein Fall bekannt.
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