Grosser Bedarf nach Ethik
Seit etwa zehn Jahren gibt es auch in der Schweiz immer mehr Ethik-Kommissionen im Dienste der öffentlichen Institutionen und des Privatsektors.
Politik und Wirtschaft haben Mühe, dem Rhythmus der wissenschaftlichen und vor allem medizinischen Fortschritte zu folgen.
Genetisch veränderte Organismen, menschliches Klonen, Stammzellen, überzählige Embryonen… Obwohl gewohnt, über jedes Thema zu debattieren, sehen sich auch die Mitglieder des Parlaments und der Landesregierung immer öfter ausser Stande, den neuen wissenschaftlichen Herausforderungen zu begegnen.
Und dabei handelt es sich häufig um medizinische oder wissenschaftliche Forschung, die erst nach mehreren Jahren oder sogar Jahrzehnten Ergebnisse zeitigt.
Auch für den arglosesten Politiker wird es schwierig, leichten Herzens über Anwendungen zu entscheiden, die fantastische Fortschritte, aber auch eine schreckliche Gefährdung für die Menschheit bedeuten können.
Zudem darf nicht vergessen werden, dass das Parlament von Juristen oder Vertretern der Wirtschaft dominiert ist. Die Männer und Frauen mit Kenntnissen der Natur- und biomedizinischen Wissenschaften machen nur eine kleine Minderheit aus.
Politische Beratung und soziale Debatte
Um sich in den von der Wissenschaft neu eröffneten Bereichen zu orientieren, hat der Bundesrat in den letzten Jahren zwei externe Ethik-Kommissionen geschaffen, die sich aus Forschern und Fachleuten der Psychologie, Philosophie, Theologie und des Rechts rekrutieren.
Die Eidgenössische Ethikkommission für die Gentechnik im ausserhumanen Bereich (EKAH) wurde 1998 eingesetzt, während die Nationale Ethik-Kommission für Human-Medizin (NEK) seit 2001 besteht.
«Die Aufgabe der Ethik-Kommissionen besteht darin, die Tragweite der wissenschaftlichen Verfahren abzuschätzen, um ein breites Spektrum an Erklärungen, Meinungen – auch unterschiedliche – und Empfehlungen anzubieten», erklärt Ariane Willemsen, Sekretärin der EKAH.
«Aber die Politiker können ihre Verantwortung nicht an die Ethik-Spezialisten delegieren: Die Pflicht der Entscheidungsfindung obliegt letzten Endes ihnen selbst.»
Aus diesem Grund müssten die von einer Kommission vorgebrachten Argumente oft als wichtiger eingestuft werden als deren Empfehlungen für oder gegen die Bewilligung einer bestimmten wissenschaftlichen Forschung.
Ethik-Boom
Die zwei Kommissionen haben zudem die Aufgabe, die Bevölkerung informieren zu helfen und einen ethischen Diskurs in der Gesellschaft anzuregen.
Die Ethik interessiert nicht nur die Politiker. In der ganzen Gesellschaft zeigt sich seit mehreren Jahren ein wachsendes Bedürfnis nach neuen Anhaltspunkten.
So kommt es, dass in der Schweiz in weniger als zehn Jahren über hundert Ethik-Kommissionen entstanden sind. Unter anderen haben sich auch die Kantone ihre eigenen Ethikspezialisten-Gruppen zugelegt, die sich vor allem zu klinischen Experimenten oder Tierversuchen äussern.
«Die Notwendigkeit einer ethischen Reflexion stellt sich seit den 80er Jahren, zu Beginn besonders im Hinblick auf die In Vitro-Befruchtung», erklärt Carlo Foppa, Philosoph und Ethiker am Universitätsspital Lausanne.
«In den letzten 20 Jahren, angesichts der neuen medizinischen und vor allem genetischen Herausforderungen, hat sich zunehmend das Bedürfnis abgezeichnet, in der Ethik Antworten auf die Fragen über die Legitimität vieler technischen Errungenschaften zu finden», sagt Foppa, eines der 21 Mitglieder der NEK.
Gesetzeslücken
Ethik-Kommission sind auch in den Spitälern entstanden, in psychiatrischen Kliniken, in medizinischen Vereinigungen und sogar in verschiedenen grossen Unternehmen.
Die rasanten Fortschritte in Wissenschaft und Technologie zeigen oft Lücken auf der legislativen Ebene auf: Die Gesetze bieten noch keine Handhabe für den Umgang mit wissenschaftlichen Verfahren, auch wenn diese schon mehrere Jahre bestehen.
«Das Problem der Stammzellen stellte sich in unseren Laboratorien, lange bevor es ins Parlament kam», erklärt Bruno Hofer, Sprecher von Novartis. «So hat unsere Direktion interne Weisungen erlassen, um die Forschung zu regeln und eine Ethik-Kommission eingesetzt, um die Beachtung dieser Weisungen zu überwachen.»
Unternehmen, Berufsverbände oder Menschenrechtsorganisationen, die sich keine Ethik-Kommission gestatten können oder keine solche brauchen, haben sich zumindest einen Ethik-Kodex angeschafft.
Manchmal dient die Ethik auch als Alibi oder Instrument, um das Image eines Unternehmens aufzumöbeln.
«Neutralerer» Raum der Religionen
Aber die Rolle der Ethik-Kommissionen beschränkt sich nicht bloss darauf, die Auswirkungen der neuen wissenschaftlichen Anwendungen abzuwägen.
Immer häufiger werden sie aufgefordert, zu wichtigen Fragen über die moralischen Werte unserer Gesellschaft Stellung zu beziehen: zum Beispiel im Rahmen der Debatte über Euthanasie oder Abtreibung.
Bis vor wenigen Jahrzehnten wurde die moralische Zuständigkeit über solche Themen im allgemeinen der Kirche anvertraut. Heute wendet man sich damit immer häufiger an die Ethik-Kommissionen, die nur zu einem geringen Teil aus Vertretern der Religionswelt bestehen.
Gemäss Carlo Foppa beabsichtigen die Ethik-Kommissionen jedoch nicht, die Rolle der Kirchen zu übernehmen.
«Die Ethik kann jedoch einen etwas ’neutraleren› Teil der Religionen darstellen, um Normen in einigen Bereichen zu stabilisieren. Auch weil es in einer multikulturellen und laizistischen Gesellschaft wie der unsrigen immer schwieriger wird zu sagen, welche Religion eine ’normative Autorität› haben könnte.»
swissinfo, Armando Mombelli
(Übertragung aus dem Italienischen: Monika Lüthi)
1998: Schweizer Regierung setzt die Eidg. Ethik-Kommission für die Gentechnik im ausserhumanen Bereich ein (EKAH)
2001: Bundesrat schafft die Nationale Ethik-Kommission für den Humanmedizin-Bereich (NEK)
2004: Gen-Lex tritt in Kraft.
Regierung und Parlament werden immer öfter aufgefordert, Entscheide zu fällen und Vorschriften zu erlassen über neue wissenschaftliche und medizinische Verfahren, besonders im Bereich der Gentechnik.
In den letzten fünf Jahren hat der Bundesrat zwei eidgenössische Ethik-Kommissionen eingesetzt (EKAH und NEK), um den Behörden eine Beratung zu garantieren, besonders in den Bereichen der Bio- und der Gen-Technologie.
Die EKAH hat sich bereits geäussert zu den Verordnungen betreffend Freisetzung von genetisch veränderten Organismen in die Umwelt, gentechnisch veränderte Nahrungsmittel, Xenotransplantation oder Patentierung von Tieren und Pflanzen.
Die Nationale Ethik-Kommission für Human-Medizin (NEK) hat sich vor allem mit Stammzellen beschäftigt sowie mit reproduktivem Klonen und Schwangerschaftsabbruch.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch