«Habe nicht das Gefühl, im Ausland zu sein»
Seit Jahrzehnten gehören die italienische Sprache und Kultur zu ihrem Leben. Eher zufällig hat es sie nun in die Toskana verschlagen - Maria Stebler aus Bern.
Antrieb für diesen Ortswechsel war der Wunsch nach einer neuen Herausforderung. Mit dem kleinen Hotel in Tatti bot sich eine seltene Gelegenheit.
Als Maria Stebler ihr Restaurant in Bern aufgeben musste und ein neues Arbeitsumfeld suchte, hatte die Toskana nicht gerade erste Priorität, viel lieber wäre sie in den Norden Italiens gezogen, an den Lago Maggiore, oder in den Süden. Allerdings sei es nicht einfach, sich dort eine neue Existenz aufzubauen.
Auf Tatti kam Maria Stebler über ein Inserat: Ein Schweizer suchte jemanden, der das kleine Bed & Breakfast «Fattoria di Tatti» führt. Der kleine Ort in der Maremma gefiel ihr. Und da ihr Beruf das Gastgewerbe ist und sie keine Ambitionen als Bäuerin hegt, wie sie sagt, packte sie die Gelegenheit.
Trouvaille in den Hügeln
Seit Mai 2005 wohnt Maria Stebler nun mit ihrem Mann Fabio Carnesecchi im mittelalterlichen Tatti, einem 400-Seelen-Dorf mit vorwiegend älteren Bewohnern.
Die im oberen Teil des Ortes gelegene Pension verfügt über acht schlichte, aber moderne Zimmer, eingerichtet von der renommierten Schweizer Architektin Pia Schmid. Der Palazzo war einst Sommerresidenz eines Marquis.
Ein prächtiger Bau mit betörendem Ausblick auf die Oliven- und Kastanienhaine sowie Rebberge der etruskischen Hügel. Der Blick reicht bis in die Ebene von Grosseto und bei klarer Sicht gar auf das Thyrrenische Meer.
Mit der «Italianità» – der italienischen Lebensweise – ist Maria Stebler durch ihre langjährige berufliche Karriere im Tessin sowie durch ihren Mann, der aus Kalabrien stammt, bestens vertraut.
«Ich habe nicht das Gefühl, im Ausland zu sein, dafür ist mir Italien zu nah. Hier gearbeitet habe ich aber noch nie.» Die beiden Neuzuzüger wurden im Dorf herzlich aufgenommen, die Leute zeigten sich interessiert und boten ihre Hilfe an.
«Uns interessiert, was im Dorf läuft. Da gibt es Tratsch und Klatsch wie überall. ‹Tutto il mondo è paese› – das ist überall gleich. Als wir hier herkamen, ging das vermutlich mehr durch alle Munde, als wir uns das vorstellen können.»
«Ich bin hier und jetzt»
Für Maria Stebler ist klar, dass sie sich als «Neue» an die Gegebenheiten im Dorf anpassen muss. Sie masse sich nicht an, zu urteilen und Ratschläge zu erteilen. Sie gehe offen, aber auch mit einer gewissen Distanz auf die Leute zu.
«Ich habe mich entschieden, jetzt hier zu leben und zu arbeiten. Man darf nicht immer vergleichen, sonst ist man nie zufrieden. Es gibt vieles, was ich in Italien nicht so toll finde, aber es geht nicht darum, immer auf der Sonnenseite des Lebens zu sein.»
Die Bernerin hat sich gut eingelebt, aber so richtig zu Hause sei sie in Tatti noch nicht. «Dafür ist die Zeitspanne zu kurz. Langsam lerne ich aber einzelne Bäume kennen und die Ecken meiner Wohnung erforschen. «
Das Heimatgefühl ist für Maria Stebler stark mit Menschen verbunden: «Wenn ich bei meiner Mutter im Bernbiet bin, fühle ich mich zu Hause, bei meinen Freunden in Bern ebenso. Vielleicht bin ich in einem Jahr hier zu Hause.»
In binationalen Partnerschaften sei einer immer Ausländer und sehne sich nach seiner Heimat. Auch ist ihr aufgefallen, dass man dem Ursprungsland gegenüber kritischer ist als der «neuen Heimat». Italien gegenüber reagiere sie nachsichtiger, bei ihrem Mann sei es gerade das Gegenteil.
Die Sprache als Schlüssel
In der Sprache sieht die 56-Jährige einen wichtigen Faktor zur Integration. Da sie mit ihrem Mann immer nur Italienisch gesprochen hat und das Personal im Restaurant in Bern mehrheitlich italienisch-sprachig war, ist ihr Italienisch fast so vertraut wie ihre Muttersprache.
«Je emotionaler es zu- und hergeht, desto wichtiger wird die hiesige Sprache. Wenn ich mich über einen Autofahrer aufrege, läuft das auf Italienisch. Wenn mich etwas jedoch ganz tief berührt, dringt die Muttersprache durch.»
Da Maria Stebler noch nicht lange in Italien lebt und sie viele Gäste aus der Schweiz hat, interessiert sie sich nach wie vor für die Schweizer Politik, wenn auch nicht mehr so sehr für regionale, sondern eher für landesweite Geschehnisse. «Die sieben Bundesräte kenne ich noch.» Dafür habe ihr Interesse für die Region Toskana und die Provinz Grosseto zugenommen.
Offen in die Zukunft
Wo und wie sie in 10 oder 20 Jahren leben wird, darüber macht sich Stebler im Moment keine Gedanken. «Ich versuche, offen zu sein und mir keine Hürden zu setzen. Wie lange ich in Tatti bleibe, weiss ich nicht.»
Da sie keine finanziellen Polster habe, werde sie wohl bis zur Pensionierung arbeiten müssen. Und mit ihrer Rente könnte sie in Italien besser leben als in der teuren Schweiz. Die Doppelbürgerin kann sich gut vorstellen, im Alter am Lago Maggiore zu wohnen. «Von dort sind es lediglich drei Stunden bis Bern und eine Stunde bis Mailand.»
Krankheit und Gebrechlichkeit seien im Alter so oder so schwierig, wo immer man wohne. «Wichtig ist, dass ein Netz, ein Freundeskreis da ist. «Örtliche Distanz bedeutet nicht, dass Freundschaften verloren gehen. Einsamkeit ist nicht eine Sache des Ortes», sagt sie und blickt gelassen und zufrieden aus dem grossen Fenster ihres Refugiums in die Ferne.
swissinfo, Gaby Ochsenbein, Tatti
In Italien lebten 2004 45’442 Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer.
Über zwei Drittel sind Doppelbürger.
Knapp ein Viertel sind unter 18 Jahre alt, rund ein Fünftel über 65.
31,4% der gut 35’000 stimm- und wahlberechtigten Schweizer in Italien sind registriert.
Maria Stebler wurde 1949 in Solothurn geboren. Aufgewachsen ist sie im Emmental, Kanton Bern.
Sie arbeitete 20 Jahre im Gastgewerbe im Kanton Tessin und 2 Jahre in einem Reisebüro in Montreal, Kanada. 1989 kam sie nach Bern und führte u.a. 10 Jahre lang das Restaurant «Paradosso».
Seit Mai 2005 betreibt Maria Stebler in Tatti zusammen mit ihrem Mann das Bed & Breakfast «Fattoria di Tatti».
Das mittelalterliche Dorf Tatti (300 – 400 Einwohner) liegt auf gut 400 m über Meer im Gebiet der Maremma, Provinz Grosseto, Toskana. Die hügelige Gegend ist reich an Bodenschätzen (Pyrit, Eisen, Kohle).
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