Hinaus aus dem Elfenbeinturm hin zu den Menschen
Wissenschaft verständlicher darstellen: Dies ist das Credo des Molekularbiologen Gottfried Schatz. Der in Basel lebende Forscher wird für seine Verdienste als Wissenschaftsvermittler mit einem grossen Preis geehrt.
Gottfried Schatz ist ein seltenes Exemplar der Spezies Naturwissenschafter: Er kann hochkomplexe Zusammenhänge in einfache Worten kleiden, sodass ein Laienpublikum findet, «So ist’s, wie konnte ich das nur vergessen!»
Dafür, und für seine Vermittlerrolle zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, wird der emeritierte Professor der Universität Basel am Samstag mit dem Europäischen Wissenschafts-Kulturpreis der Kulturstiftung Pro Europa ausgezeichnet.
swissinfo.ch: Sie sind der erste Naturwissenschafter, der diese Auszeichnung erhält. Was bedeutet sie Ihnen?
Gottfried Schatz: Einerseits ehrt und freut sie mich. Andererseits freut mich die Auszeichnung auch für unsere Gesellschaft, welche ja die Naturwissenschaft aus ihrem Kulturbegriff verbannt hat.
Damit untergräbt sie einen der wichtigsten Grundpfeiler westlichen Denkens, nämlich die Idee, dass man die Welt durch logisches Nachdenken begreifen kann. Mit dem Preis setzt die Kulturstiftung Pro Europa ein Zeichen und heisst die Naturwissenschaften im Haus der Kultur wieder willkommen.
Es ist traurig, dass die Engstirnigkeit auf Seiten der Kunst meist noch grösser ist als die der Wissenschaft. Künstler rühmen sich manchmal kokett, von Mathematik und Physik nichts zu verstehen. Es gibt natürlich auch Naturwissenschafter, die Shakespeare nicht gelesen haben – aber sie sind wenigstens nicht stolz darauf.
Beide Seiten müssen sich anstrengen, diesen Graben zu überbrücken. Die Bringschuld auf Seiten der Geisteswissenschaft und der Kunst ist heute aber grösser als auf Seiten der Naturwissenschaften.
swissinfo.ch: Sie gehörten zu den Mit-Entdeckern der mitochondrialen DNS, steht in der Mitteilung der Universität Basel zur Ehrung. Hier sind wir doch schon beim Problem: Nur Insider können sich darunter etwas vorstellen.
G.S.: Natürlich. Aber wenn jemand über Schönbergs Zwölftontechnik schreibt, können sich die meisten ebenso wenig vorstellen. Nur akzeptieren sie es eher.
Die erwähnte DNS ist aber von grosser gesellschaftlicher und philosophischer Bedeutung. Als junger Forscher habe ich mit-entdeckt, dass die Verbrennungsmaschinen unserer Zellen, die sogenannten «Mitochondrien», ein eigenes, kleines Erbmaterial besitzen, das wir nur von der Mutter erben.
Später stellte sich heraus, dass dieses kleine Erbmaterial ein besonders günstiges Objekt ist, um verwandtschaftliche und genetische Zusammenhänge aufzuklären. Dank ihr konnten wir herausfinden, dass die angebliche Zarentochter Anastasia in Wirklichkeit die Tochter eines polnischen Bauern war.
Oder dass die Neandertaler, die vor einigen zehntausend Jahren in Europa lebten, mit unserer Menschenspezies keine Kinder zeugten, obwohl sie mit ihr über viele Jahrtausende den gleichen Lebensraum teilten.
Naturwissenschaftliche Erkenntnisse sind also für das Verständnis unseres Lebens und unserer Gesellschaft von grosser Bedeutung.
swissinfo.ch: Sie vermitteln zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, aber auch zwischen Wissenschaften und Öffentlichkeit. Welchen Grundsätzen folgen Sie?
G.S.: Meine wichtigste Entscheidung war, wie so oft im Leben, die Wahl der richtigen Eltern! Ich bin als akademischer Lehrer genetisch vorbelastet. Alle meine mütterlichen Vorfahren waren Lehrer auf dem Land.
Ich wurde während der Sommerferien in einem Landschulhaus geboren, meine Wiege stand im einzigen Klassenzimmer direkt unter der Wandtafel. Mit meinen ersten Atemzügen atmete ich nicht aristokratische Lebensart und vornehme Sitten ein, sondern Kreidestaub. Das ist mir geblieben.
Wenn ich heute vor Menschen stehe und versuche, ihnen etwas zu erklären, versuche ich mich in ihre Köpfe und in ihre Haut zu versetzen und mir selbst zuzuhören.
Höre ich in im Publikum die mir nur allzu bekannten kleinen Unruhegeräusche, blinkt in mir sofort ein Warnlicht und sagt mir: «Hoppla, das kannst du auch einfacher sagen.»
swissinfo.ch: Sie kritisieren die Hochschulen, dass sie diese kommunikativen Vermittlungsfähigkeiten in der Ausbildung der Forschenden vernachlässigen?
G.S.: Ich wäre Ihnen ausserordentlich dankbar, wenn sie diese Kritik so weit und so breit wie möglich kundtun! Dies ist eines der Hauprobleme unserer Universitäten.
Als ich im Wissenschafts- und Technologierat war, schlugen wir dem Bundesrat vor, dass das Pflichtenheft des Professors nicht zwei, sondern drei Hauptpflichten aufführt: Lehre und Forschung sowie die Wechselwirkung mit der Öffentlichkeit.
Die Realität sieht aber betrüblicher aus. Meine naturwissenschaftlichen Kollegen erwähnen in ihren Vorträgen so viele unnötige Details und hochspezifische Fachausdrücke, dass selbst ich als Naturwissenschafter sie oft langweilig und undurchsichtig finde.
Viele meiner Kollegen von den Geisteswissenschaften bemühen sich, eine möglichst geschraubte Sprache zu verwenden, die sie nicht mehr frei vortragen, sondern nur noch ablesen können. Damit verdecken sie die eigentliche Botschaft. Dagegen sollten wir kämpfen.
swissinfo.ch: Einige Naturwissenschafter gewinnen mit Provokationen die Aufmerksamkeit der Medien. Ist dies ein löblicher Dienst an Wissenschafts-Vermittlung?
G.S.: Provokation ist nie etwas Gutes, weil sie meist eine Abwehrhaltung bewirkt. Wir Wissenschafter sollten, wenn nötig, die Öffentlichkeit mit wissenschaftlich fundierten Kassandrarufen aufrütteln, denn es ist unsere Pflicht, darüber nachzudenken, was in 50 oder 100 Jahren geschehen könnte.
Renat Künzi, swissinfo.ch
Gottfried Schatz ist 1936 in Österreich geboren.
Schatz ist talentierter Geigenspieler, der als junger Musiker in Orchestern spielt.
1964 gehört er zum Team, das die mitochondrialen DNA entdeckt.
Von 1974 bis 1999 ist er Professor für Biochemie am Biozentrum der Uni Basel.
Danach präsidiert er bis 2003 den Schweizerischen Wissenschafts- und Technologierat, der den Bundesrat in der Bildungs- und Forschungspolitik berät.
Schatz ist nicht nur ein hochdekortierter Naturwissenschafter, er glänzt auch als Autor und Kommentator, der auf sehr anschauliche Weise hochkomplexe Forschungsthemen in philosophische und kulturgeschichtliche Zusammenhänge einbettet.
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