«Ich lasse mich von Barrieren nicht mehr abhalten»
Technologie soll Barrieren abbauen, manchmal aber baut sie auch welche auf. Ein Streifzug im Netz der Netze mit dem blinden Webseiten-Accessibility-Tester René Jaun von der Stiftung "Zugang für alle".
«Ich teste Internetseiten und überprüfe, ob jemand, der nichts oder fast nichts mehr sieht, mit seinem Computer darauf zugreifen kann und sich zurechtfindet», erklärt René Jaun seine Arbeit gegenüber swissinfo.
«Für mich als blinde Person ist das Internet sehr wichtig, wahrscheinlich noch wichtiger als für Menschen, die etwas sehen können», sagt er.
«Die Sehenden kommen an viele Informationen auch ohne Internet heran. Ich denke da an Werbung, an Sonderangebote, aber auch an Informationen über politische Aktivitäten, an den wöchentlichen Anzeiger, der in allen Schweizer Städten verteilt wird. Für mich sind all diese Informationen nicht zugänglich, weil sie ein funktionierendes Auge erfordern.»
Störende Barrieren
Jaun braucht eigentlich keinen Monitor. Aber sein Laptop ist ein günstiges Seriengerät. Mit der «Screen Reader»-Software lässt er sich Internetseiten vorlesen. Und mit einer Tastatur-Ergänzung, der so genannten Braillezeile, kann er den Text abtasten.
Das Gerät wandelt die Schrift auf dem Bildschirm zeilenweise in Blindenschrift um. Damit bewegt er sich so sicher und schnell durchs World Wide Web wie eine routinierte sehende Person.
Fehlende Attribute
Damit Jaun und andere Sehbehinderte Webseiten erfassen können, müssen diese einige Voraussetzungen erfüllen.
Auf einer Internetseite sind oft verschiedene Elemente angeordnet: Überschriften, Listen, Tabellen, Grafiken, usw. «Man kann eine Überschrift gestalten, indem man den Text fett und übergross formatiert», erklärt Jaun.
«In der Internet-Sprache, dem so genannten HTML-Code, gibt es jedoch das ‹Überschrift-Attribut›, das man einem Text zuweisen kann. Mein Webseiten-Leseprogramm braucht dieses Attribut, um den Text als Überschrift zu erkennen.»
Dies sei wichtig, um die Struktur einer Webseite zu erkennen, erklärt Jaun. Er könne ja nicht wie ein Sehender die Bildschirmseite mit einem Blick erfassen.
Eine sehende Person scannt eine Webseite mit den Augen nach gross geschriebenen Titeln. «Dies kann mein Screenreader auch, wenn die Titel richtig definiert sind. Er fasst alle Überschriften in einer Dialogbox zusammen.»
Rettungsanker Alternativtexte
Die meisten modernen Websites beinhalten viele Grafiken und Links, die hinter Grafiken verborgen sind. Jaun denkt da etwa an eine Seite eines Reisebüros. «Heute sieht man häufig nur noch Bilder von Palmen und Meer». Diese muss man anklicken, um Ferien zu buchen.
«Mein Leseprogramm kann mit solchen Grafiken normalerweise nichts anfangen. Es sagt mir an, es habe eine Grafik gefunden und liest mir dann den oft nicht verständlichen Dateinamen der Grafik vor. Webseiten-Designer können mit einem so genannten Alternativtext diesem Problem Abhilfe verschaffen.»
Dieser Alternativtext ist normalerweise unsichtbar, Jaun aber wird er vorgelesen.
Testobjekt swissinfo-Webseite
«swissinfo ist auf dem Weg, eine barrierefreie Website zu werden», befindet Jaun. «Ich kann als Blinder feststellen, wo sich der wichtige Text befindet. Es gibt aber auch noch Macken, welche die Navigation erschweren.» So stören ihn unverständlich oder nicht korrekt gekennzeichnete Grafiken oder Abschnitte.
Und bei der neuen Funktion «Artikel anhören» fehlt noch ein Hintergrundelement, das auch von Jauns «Screen Reader» geortet werden kann.
«Dieses Vorlesefeature ist wichtig für Menschen mit einer Sehbehinderung, die normale Schrift stark vergrössert lesen können. Für sie ist die Vorlesefunktion hilfreich, weil sie ihre Augen nicht anstrengen müssen.»
Wenn Jaun sich jedoch einen längeren Artikel anhören möchte, sucht er mit seiner «Screen Reader»-Software eine passende Stimme aus und lässt sich den Text in einer ihm beliebigen Geschwindigkeit vorlesen.
Tendenz zur Besserung
Jaun stellt fest, dass immer mehr Internetseiten behindertengerecht zu bedienen sind. «Am fortschrittlichsten sind Bundesverwaltung, Kantone und Gemeinden», erklärt er. «Logisch, sie sind gesetzlich verpflichtet, barrierefreie Webseiten anzubieten.»
In der Privatwirtschaft hapere es noch. Viele Banken jedoch, allen voran die Credit Suisse, hätten ihren Internetauftritt sehr zugänglich gestaltet.
Beim E-Shopping sieht Jaun noch grossen Handlungsbedarf. Besonders schlecht sei das Angebot von Coop, dicht gefolgt von Migros «Le Shop». Er könne zwar bei «Le Shop» einkaufen, so Jaun, «aber nur weil ich ein Mensch bin, der sich durch unzulängliche Seiten durchkämpft. Ich lasse mich von Barrieren nicht mehr abhalten.»
swissinfo, Etienne Strebel, Zürich
Am 13.5.2009 führt die Stiftung «Zugang für alle» von 16 bis 19 Uhr einen «Tag der offenen Tür» durch, in den Räumlichkeiten der Stiftung an der Grubenstrasse 12 in Zürich.
Dabei wird Einblick geboten in die Arbeit von «Zugang für alle» zur Förderung der Chancengleichheit für Menschen mit Behinderung durch den Einsatz neuer Technologien.
Der 27-Jährige studiert zu 50% Sozialwissenschaften an einer englischen Fernuniversität.
Zu 40% arbeitet er bei «Zugang für alle» als Web-Accessibility-Spezialist.
Weiter ist er in einem Museum für optische Täuschungen tätig. Er führt dort Sehende ins Dunkle und vermittelt ihnen die Erfahrung des Nicht-Sehens.
Seinen Blindenhund Leo möchte René Jaun nicht mehr hergeben. Leo begleitet ihn fast überall hin. «Ich käme wahrscheinlich auch ohne Leo überall hin. Aber er erleichtert mir die Mobilität und erlaubt mir teilweise auch tagträumend durch die Gegend zu spazieren und trotzdem ohne Beulen ans Ziel zu kommen.»
Jaun war schon bei seiner Geburt stark sehbehindert. Früher konnte er noch Farben sehen. Seit bald elf Jahren ist er jedoch vollständig blind.
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