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«In der heutigen Situation kann es jeden treffen»

Walter Schmid, Präsident der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS). Keystone

Immer mehr Menschen in der Schweiz brauchen Sozialhilfe. Gleichzeitig findet eine kontroverse Diskussion über Sozialwerke im allgemeinen statt.

Im Gespräch mit swissinfo versucht Walter Schmid, Präsident der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe, die Wogen zu glätten.

Das Thema Sozialhilfe ist in der Schweiz seit geraumer Zeit ein Dauerbrenner. Rund eine halbe Million Menschen leben von der Sozialhilfe oder beziehen eine Invaliden-Rente. 2003 stieg die Zahl der Sozialhilfe-Empfänger um 10% auf 300’000.

Kritiker der Sozialhilfe monieren, die versteckte Botschaft der Stützsysteme laute, arbeiten nütze nichts. Der Präsident der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS), Walter Schmid, stimmt zwar zu, dass die Sozialsysteme arbeitsfreundlicher werden sollten. Aber gleichzeitig müsse die Arbeitswelt sozialverträglicher werden. «Wenn die Arbeit fehlt, nützen Anreize nichts.»

swissinfo: Was für Leute sind Sozialhilfe-Empfänger?

Walter Schmid: In der heutigen Situation kann es jeden treffen. Die ausgesteuerten Arbeitslosen sind eine grosse Gruppe, dann haben wir sehr viele Familien, die mit ihrem Einkommen nicht mehr durchkommen, zunehmend auch Selbstständig-Erwerbende, die sich nicht einmal auf eine Arbeitslosenversicherung abstützen können. Und besonders Besorgnis erregend: überdurchschnittlich viele junge Leute zwischen 25 und 35.

swissinfo: Die SKOS bezeichnet die wirtschaftliche Rezession als entscheidende Ursache für den massiven Anstieg der Sozialhilfe-Empfänger. Andere Stimmen behaupten, Armut oder Armutsperioden seien selten durch die Wirtschaft verursacht, sondern zumeist durch persönliche Entscheide und fehlende Solidarität im Kleinen.

W.S.: Wenn in einem Land in einem oder zwei Jahren 200’000 Arbeitsplätze verloren gehen, schlägt sich das sicher auf die Zahl der Sozialhilfe-Empfänger nieder. Die Konjunktur hat einen ganz entscheidenden Anteil. In den letzten Jahrzehnten verzeichneten wir immer dann einen massiven Anstieg der Sozialhilfe-Empfänger, wenn es der Wirtschaft schlecht ging.

Auf der anderen Seite ist es auch sicher, dass die Sozialhilfe nicht ein Urteil fürs ganze Leben ist. Viele Leute sind einmal auf Sozialhilfe angewiesen, dann kommen sie wieder raus, wenn sie eine Chance haben. Das betrifft etwa einen Fünftel. Das ist wichtig, weil wir in der Sozialhilfe versuchen, die Menschen zu befähigen, wieder selbstständig zu werden.

swissinfo: Die massivste Kritik an der Sozialhilfe lautet: Von der Sozialhilfe leben ist besser als arbeiten. Was der Unterstützte selbst verdient, wird ihm Franken für Franken zurückgenommen – höhere Steuern, Wegfall der Krankenkassenprämien-Verbilligung, höhere Kosten für Kinderkrippen usw.

W.S.: Da gibt es tatsächlich ein Problem. Auf der einen Seite haben wir ein verfassungsmässig garantiertes Existenzminimum, auf der anderen Seite sollte arbeiten sich volkswirtschaftlich lohnen, damit die Leute es wieder tun.

Das Problem kann leicht an einem Beispiel illustriert werden: Wenn eine vierköpfige Familie zum Leben vielleicht 4500 Franken braucht, dann reicht das Einkommen eines Mannes, der nur 3000 Franken verdient, nicht.

Wenn jemand eine Existenzsicherung von 4500 Franken hat, dann lohnt es sich für die Person wenig, noch 500 Franken dazu zu verdienen, weil sein immer noch niedriges Einkommen dann zusätzlich besteuert wird, und das je nach Kanton erst noch unterschiedlich.

Die Anreize zur Arbeit müssen anders gesetzt werden. Das Grundproblem lässt sich aber damit auch nicht aus der Welt schaffen: Eine mehrköpfige Familie mit niedrigem Einkommen kommt heute einfach nicht mehr durch.

swissinfo: Ist das ganze föderale System der Sozialhilfe, die Vielfalt und Kompliziertheit der Stützsysteme, nicht ein Hemmschuh?

W.S.: Die Versuchung ist immer wieder da zu sagen, machen wir doch ein einfaches System auf Bundesebene. Das hätte sicher gewisse Vorteile. Auf der anderen Seite darf man die Kraft des föderalistischen Systems auch nicht unterschätzen.

Ich glaube, gerade in der Sozialhilfe, wo konkrete individuelle Hilfen für einzelne Menschen mit ihren speziellen Schicksalen wichtig sind, kann die Bürgernähe durchaus ein Vorteil sein. Ich möchte eigentlich eher die Vorteile des Föderalismus erhalten, aber wirksam gegen die Nachteile kämpfen.

swissinfo: Sie sind schon lange im sozialen Bereich tätig. Hat sich die Sozialhilfe, der Beruf des Sozialarbeiters in den letzten Jahrzehnten stark verändert?

W.S.: Es hat massive Veränderungen gegeben. Zu erwähnen ist die rasante technologische Entwicklung, die sich auf die Arbeit im Sozialbereich ausgewirkt hat. Ebenso die Erkenntnis, dass zur Schweizer Bevölkerung auch die Ausländer gehören.

Aber auch die Ökonomisierung des Sozialen ist etwas, das in den 90er Jahren ganz entscheidend eingebrochen ist. Diese Messbarkeit nach Aufwand und Ertrag auch in der sozialen Tätigkeit hat ganz massive Veränderungen gebracht in der politischen Landschaft und im Denken der Leute, bis hinein in einem selber. So kann ich auch einige meiner veränderten Einstellungen zu gewissen Fragen auf diesen Wandel zurückführen.

swissinfo: Die NZZ hat Sie jüngst als «Manager für Sozialfragen» bezeichnet. Wird man nach Jahren der professionellen Tätigkeit in diesem Bereich nicht abgehärtet?

W.S.: Ich fühle mich als Manager, weil ich gerne die Dinge führe, zum Beispiel auch während zehn Jahren den grössten Sozialdienst der Schweiz.

Als ich den NZZ-Titel las, habe ich allerdings gedacht: Na, manchmal bin ich auch Denker fürs Soziale. Ich glaube, ich habe durch meine Tätigkeiten und Reflexionen immer wieder auch Anstösse geben können für Ideen und Gedanken. Ich würde also sagen, neben der Manager-Fähigkeit habe ich manchmal auch noch die Fähigkeit zu denken, was ich den Managern ja nicht absprechen will.

Zur Frage der Abhärtung gegenüber den Sozial-Empfängern: Es ist sicher so, dass man nicht mehr in jedem Fall offen ist, sich mit totalem Herzblut zu engagieren, weil man einfach sieht, dass man nur beschränkte Erfolgsmöglichkeiten hat. Man engagiert sich eben dann nur dort, wo man glaubt, am ehesten etwas zu bewirken.

Aber dass mir die menschlichen Schicksale weniger nahe gehen als damals, das würde ich nicht sagen.

swissinfo: Es gibt also nur beschränkte Möglichkeiten auf Erfolg, zudem steht die Sozialhilfe ständig unter Druck, politisch, wirtschaftlich, auch von den Medien. Haben Sie auch schon mal daran gedacht, den Bettel hinzuschmeissen?

W.S.: Ja, ich denke, ich habe immer wieder mal solche Phasen gehabt, wo ich mich beruflich neu orientieren musste. Das ist auch der Moment, da man sich fragt, ob man ein ganz anderes Engagement wählen will. Ich habe über die Jahre Beziehungsnetze und Wissen erarbeitet. Das will ich nicht einfach so über Bord werfen.

Aber ich kann Ihnen schon sagen: Wenn ich zwei, drei Wochen in den Ferien bin, dann könnte ich mir gut zwei, drei weitere Monate vorstellen.

swissinfo-Interview: Jean-Michel Berthoud

2003: 300’000 Sozialhilfe-Empfänger (10% mehr als im Vorjahr), etwa 40% davon Ausländer

SKOS: In 3 Jahren möglicherweise 400’000 Sozialhilfe-Empfänger

Dunkelziffer: Caritas schätzt 850’000 Personen als arm ein

Walter Schmid (51) ist Präsident der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS). Die SKOS erarbeitet seit 30 Jahren Empfehlungen für die Bemessung der Sozialhilfen.

Im Hauptberuf ist der promovierte Jurist Rektor der Fachschule für Soziale Arbeit Luzern (seit Herbst 2003). Daneben ist er noch Vizepräsident der Eidgenössischen Ausländerkommission (EKA).

Von 1982 bis 1991 war Schmid Zentralsekretär der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH).

Danach bis zum Jahr 2000 Leiter des Amtes für Sozial- und Jugendhilfe in der Stadt Zürich.

Ab 2000 bis zur verworfenen Abstimmung im Mai letzten Jahres stand Schmid dem Projekt Solidaritätsstiftung vor.

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