Inszenierte Natürlichkeit
Die Schweiz muss radikal umdenken. Schöne Berge, Seen und Hotels reichen nicht mehr, sagt Freizeitexperte Heinz Rico Scherrieb.
Statt verstaubte Angebote soll die künftige Generation mit einer stärkeren Inszenierung der Landschaft angelockt werden.
Scherrieb ist momentan Gastprofessor an der Wirtschaftsuniversität Wien und lehrt auch im Rahmen des Masterstudiengangs für internationalen Tourismus an der Uni Lugano. Zudem ist er seit 1999 Geschäftsführer der EWC ErlebnisWeltenConsulting, einer Beratungsgesellschaft für Freizeit- und Erlebniswelten in Innsbruck.
Der 55-jährige, aus Deutschland stammende Dozent hat sich zeitlebens mit dem Freizeitverhalten in der Gesellschaft befasst. «Ich bin ein UFO, ein Urlaubsforscher», sagt er selbstironisch im Gespräch mit swissinfo.
Seine Thesen sind provokativ. Scherrieb ist überzeugt, dass Standardprogramme – schönes Zimmer in guter Lage – heute nicht mehr ausreichen, um im Tourismusgeschäft mithalten zu können. Es wachse eine vollkommen neue Generation heran, denen man Erlebniswelten mit auf den Weg geben müsse.
Neue Touristen
Bei der heutigen, so genannten Bild- oder Monitor-Generation habe man es mit Personen zu tun, die fertige Bilder oder Filme gesehen haben und diese Bilder nun in der Realität suchten. Es ist zudem eine Zapping-Generation. Wenn ein Programm nicht auf Anhieb interessant ist, wird umgeschaltet. Und in den Ferien ist es wie vor dem Fernseher
Die Tourismusveranstalter müssen sich laut Scherrieb auf dieses geänderte Konsumverhalten einstellen. Der Gast wolle immer etwas «mehr» dazu haben, um wirklich begeistert zu sein. Nur wer diesen «adding-value» biete, können im harten Business überleben.
Vorbild Österreich?
Empirische Forschungen belegen laut Scherrieb eindeutig, dass heute «Sun and beach» (Sonne und Strand) als Ferienziel dominieren. Nur 6 Prozent der deutschen Bevölkerung wünscht sich noch Sommerferien in den Bergen. Und von diesen wollen Dreiviertel nach Österreich und nur ein Viertel in die Schweiz.
Der Marktvorsprung der Österreicher erkläre sich nicht nur durch den Preis. «Wir haben gemerkt, dass die Österreicher schon sehr früh angefangen haben, das für den Schweizer Geschmack häufig übertriebene, so genannte «Abenteuer plus zu schaffen. Eine Art Ballermann-Atmosphäre.»
Das österreichische Ischgl ist zum Inbegriff für das Alpenspassmodell geworden. Dort ist praktisch immer ausgebucht. Es ist die Umkehrung eines Alt-Herren-Images. Es gibt Beach-Volleyball-Turniere in den Bergen, die mittlerweile den halben Sommer gehen und Zehntausende von jungen Menschen anziehen.
Schweizer Vorbehalte
In der Schweiz bestehen allerdings viele Vorbehalte gegen diesen «Ausverkauf» der Berge und der Heimat. Er gilt als wenig umweltkonform sowie unvereinbar mit der Tradition und den heute weitverbreiteten Zielen eines sanften Tourismus.
Scherrieb anerkannt dies, verweist aber darauf, dass die Generation, die traditionell Bergferien macht, langsam ausstirbt. «Die Schweiz muss sich entscheiden. Lässt man alles beim Alten, dann kann man den Tourismus als aussterbenden Industriezweig betrachten.» Kleiderfabrikation überlasse man ja inzwischen auch anderen Ländern.
Scherrieb schlägt hingegen vor, die natürlichen Gegebenheiten mit kleinen Attraktionen künstlich anzureichern und mit einem Mehrwert auszustatten. Er spricht von Erlebnis- und Traumwelten. Für die Rheinfälle in Schaffhausen wurde beispielsweise ein Konzept ausgearbeitet, wie die Wasserfälle flächenmässig in Brand gesteckt werden können.
Sommeraktion in den Bergen
Auch die Berge will der Freizeitforscher besser nutzen, insbesondere im Sommer, wenn die Seilbahnkapazitäten nicht ausgelastet sind.. Er hat 27 Arten ausgelotet, im Sommer auf verschiedene Arten den Berg herunter zu kommen.
Es lassen sich etliche Pisten nebeneinander bauen. Rutschbahn, Karts und anderes. Die Gäste können dann auswählen. Nach dem Multiple-Choice-Verfahren. Die Leute – so meint Scherrieb- wollen Abwechslung. Und deshalb brauche es nicht nur schöne Berge, sondern «Action-Berge».
swissinfo, Gerhard Lob
Heinz Ricco Scherrieb gehört zu den Freizeitforschern, die überzeugt sind, dass das Reiseverhalten der neuen Gästegeneration Symptome aufzeigt, die auf einen grundsätzlichen Wertewandel bei der Auswahl touristischen Ziele hinweist.
Der Gast von heute – ein Kind des Medienzeitalters – sucht eine Vielzahl von Reizen, die zur selben Zeit «zur Verfügung» stehen.
Die bisherigen Angebote sind aber allenfalls informativ, selten aber unterhaltend aufbereitet, weil die «Wächter über die Kultur und Natur» die Mittel der Unterhaltungsindustrie nicht umsetzen (wollen).
Wo aber nur der Verstand gefordert ist, haben Traum, Emotionen und Vergnügen keinen Platz.
Scherrieb plädiert für Traum- und Erlebniswelten und fordert die Schweiz zu einer grundsätzlichen Erneuerung auf, wenn sie den Anschluss als Ferienland nicht verlieren will.
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