Mit Virtual Reality gegen die Angst vor einer Operation
Auf eine paradiesische Insel reisen oder sich von abstrakten, entspannenden Bildern einlullen lassen, bevor man sich unters Messer legt: Der Einsatz von Virtual Reality im medizinischen Bereich wird immer beliebter. Zum Beispiel, um Ängste vor einer Operation abzubauen. Eine Reportage.
«Als ich es zu Hause ausprobiert habe, bin ich innerhalb von fünf Minuten zweimal eingeschlafen», erzählt Andrea Polito, während er in einem Büro des Spitals Beata Vergine in Mendrisio (OBV) im Tessin ein Virtual-Reality-Headset bereitmacht.
Polito ist Anästhesist und erforscht, wie virtuelle Realität (VR) die Angst vor Operationen verringern kann. Weltweit hat fast die Hälfte aller Patientinnen und Patienten Angst vor einem chirurgischen EingriffExterner Link.
«Präoperative Angst ist ein Abwehrmechanismus unseres Körpers gegen ein als gefährlich wahrgenommenes Ereignis», sagt Polito.
«Sie kann von einfacher Mutlosigkeit bis hin zu mehr oder weniger schweren Komplikationen reichen.» So kann beispielsweise ein durch Angst beschleunigter Herzschlag zu vermehrten Blutungen während einer Operation führen.
«Es funktioniert, das wissen wir. Was wir uns jetzt fragen müssen, ist: In welchem Zusammenhang funktioniert es am besten? Und für wen?»
Stéphane Bouchard, Dozent
Ausserdem haben Patientinnen und Patienten mit präoperativen Angstzuständen ein höheres Risiko, eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) zu entwickeln.
Dozent an der kanadischen Universität Quebec, ist davon überzeugt: «Das sind bekannte psychologische Mechanismen. Sie funktionieren, das wissen wir», sagt er.
«Was wir uns jetzt fragen müssen, ist: In welchem Zusammenhang funktioniert es am besten? Und für wen?»
Diese Fragen wollen Polito und sein Team jetzt in ihrer Studie beantworten, die sie im Auftrag der Universität Lugano durchführen.
Abgelenkte Patientinnen und Patienten
Der Einsatz von virtueller Realität in der Medizin ist nicht neu, sagt Bouchard, der sich seit mehr als 20 Jahren mit dem Thema beschäftigt. Diese Technologie wird seit langem für motorische Rehabilitation und zur Behandlung von Menschen mit Phobien oder posttraumatischen Belastungsstörungen eingesetzt.
Seit den 1990er-Jahren haben Studien von Forschenden wie Hunter Hoffman von der University of WashingtonExterner Link gezeigt, dass virtuelle Realität ein hervorragendes Instrument sein kann, um Patientinnen und Patienten dabei zu helfen, besser mit Schmerzen umzugehen.
Die meisten dieser Studien haben gezeigt, dass der Einsatz von virtueller Realität nicht nur die Schmerzen lindern, sondern auch die Angst reduzieren kann.
Laut Bouchard haben sich zwei verschiedene Arten der Anwendung virtueller Realität im klinischen Umfeld entwickelt. Die erste besteht darin, die Patientinnen und Patienten auf spielerische Weise kognitiv zu beschäftigen.
Das bekannteste Beispiel dafür ist «SnowWorld»Externer Link, ein Videospiel, das Hoffman für die Behandlung von Patientinnen und Patienten mit schweren Verbrennungen entwickelt hat.
Die zweite Strömung, zu der auch das französische «Bliss»Externer Link gehört, ist eher kognitiv-passiver Natur. Es geht darum, die Patientinnen und Patienten in eine entspannende und kontemplative Umgebung zu versetzen, in der sie nicht interagieren, sondern sich nur umsehen können.
In beiden Fällen geht es jedoch darum, die Patientinnen und Patienten von Schmerzen und Ängsten abzulenken, um eine schwierige Erfahrung erträglicher zu machen.
Virtuelle Realität versus Beruhigungsmittel
Unter den Patientinnen und Patienten, die im Spital von Mendrisio auf eine Operation warteten, identifizierte Polito diejenigen, die für präoperative Angstzustände anfällig waren. Er fragte sie, ob sie an der Studie teilnehmen möchten.
In fünf Monaten haben rund hundert Menschen das Headset getestet. Darunter auch Alessandra Negroni, die wir im Spital trafen, als sie auf eine Operation wartete.
«Normalerweise fällt es mir schwer, mich zu entspannen», erzählt sie uns. «Aber es hat funktioniert. Es trägt einen», vertraute sie uns an, nachdem sie von der virtuellen Paradiesinsel zurückgekehrt war, auf die sie die VR-Brille begleitet hatte.
Aber das ist nicht immer der Fall, sagt Pflegefachfrau Carmen Davide. «Vielleicht haben es sich einige Patientinnen und Patienten aus Angst vor anderen Krankheiten anders überlegt und es nicht versucht.»
Sie erinnert sich an einen Patienten, der nach dem Tragen der Brille über Übelkeit und Schwindel klagte und das Experiment abbrechen musste.
Mehr
Virtual Reality ohne Übelkeit: Wo steht die Forschung?
Solche negativen Erfahrungen, die bei den Studienteilnehmenden die Ausnahme seien, «zwingen uns, uns zu bemühen», sagt Polito.
Zum anderen motivieren sie die Forschenden, neue Methoden zu entwickeln, die bei jenem Teil der Bevölkerung funktionieren, der gegenwärtig etwas Mühe hat, diese Technologie zu nutzen.
Studien zufolge hat die medizinische VR jedoch einen grossen Vorteil, heisst es in einem Artikel von National GeographicExterner Link zu diesem Thema: dass sie gezielt eingesetzt werden kann.
«Medikamente schalten sich nicht sofort ein oder aus. Aber wenn eine Patientin oder ein Patient das VR-Headset abnimmt, hört die Wirkung auf», heisst es im Artikel.
Die «klassische» Methode zur Verringerung der Angst vor einer Operation besteht in der Verabreichung von Medikamenten. Diese haben im Allgemeinen «eine beruhigende Wirkung und sind nicht immer anxiolytisch [angstlösend], auch wenn sie als solche bezeichnet werden», sagt Polito.
Eine neue Normalität
Seit den Tagen von Pionieren wie Hoffman, als ein Virtual-Reality-Headset bis zu 20’000 Franken kostete und an einen 10’000 Franken teuren PC angeschlossen werden musste, hat sich einiges geändert, sagt Bouchard.
Heute muss die Brille nicht mehr an einen Computer angeschlossen werden, und die Geräte kosten nur noch wenige hundert Franken.
Ausserdem sind sie immer einfacher einzurichten, was die Handhabung für das Personal erleichtert.
«Die Technologie funktioniert», sagt Bouchard. «Die aktuellen Herausforderungen betreffen vor allem den Zugang. Um die notwendigen Mittel und Genehmigungen zu erhalten, müssen die Studien den Behörden beweisen, dass diese medizinische Massnahme sicher und wirksam ist, und zwar in jedem Land.»
Kurzum: Die Forschung von Andrea Polito und seinem Team ist ein Schritt in Richtung einer neuen Normalität.
Editiert von Sabrina Weiss, Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch