KI-Abkommen: Ist Diplomat Schneider ein Handlanger der USA oder ein neutraler Schweizer?
Der Schweizer Diplomat Thomas Schneider hat ein historisches Abkommen zur Künstlichen Intelligenz (KI) ausgehandelt. Kritiker:innen werfen Schneider vor, er sei Kompromisse bei grundlegenden Prinzipien eingegangen. Wir trafen ihn im Europarat in Strassburg.
Sollten wir zulassen, dass künstliche Intelligenz (KI) uns aufgrund des Geschlechts und der Hautfarbe diskriminiert, darüber entscheidet, ob wir Zugang zu Krediten und Gesundheitsdienstleistungen haben, und unsere Daten nutzt, um uns zu manipulieren und zu überwachen?
Bis vor kurzem existierte kein global verbindliches Abkommen zur Regelung von Menschenrechtsverletzungen, die durch den Einsatz von KI verursacht werden. Doch nach jahrelanger Arbeit hat der Europarat nun ein solches verabschiedet, unter massgeblicher Beteiligung der Schweiz.
Internationale Verhandlungen über solch komplizierte Materien zu leiten, kann selbst die erfahrensten Diplomatinnen und Diplomaten an den Rand der Erschöpfung bringen. Dennoch, als Thomas Schneider in den Besprechungssaal des Europarats betritt, wirkt er aufgeräumt.
Der Schweizer Diplomat hat über die vergangenen zwei Jahre hinweg die Vertragsverhandlungen geleitet und den schwierigsten Teil hinter sich. Im März 2024 einigten sich die 46 Staaten des Europäischen Rats plus elf Beobachterstaaten – darunter die USA, Kanada und Israel – auf die erste globale KonventionExterner Link zur Nutzung von KI überhaupt.
Das richtungsweisende Abkommen schützt Bürgerinnen und Bürger vor gefährlichen Anwendungen von KI und wird als entscheidender Schritt im Kampf um die Bedrohung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit durch KI gesehen. Es ist auch ein persönlicher Triumph für Schneider.
An diesem Vormittag Mitte September im französischen Strassburg, nur einen Tag bevor Schneiders Position als Vorsitzender des Ausschusses über Künstliche Intelligenz endet, dreht sich die Diskussionen um ein nicht verpflichtendes InstrumentExterner Link, das es Regierungen erlaubt, die Risiken und die Auswirkungen von KI zu bewerten.
Die heute anwesenden Vertreterinnen und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und der Zivilgesellschaft glauben nicht, dass dieses Instrument ein echter Durchbruch für die Menschenrechte ist.
«Einige Staaten bestehen darauf, Formulierungen zu ändern, wenn sie sonst auch nur die kleinste Verpflichtung eingehen müssten», sagt Francesca Fanucci während einer Verhandlungspause. Die leitende Rechtsberaterin für das «European Centre for Not-for-Profit Law» (ECNL) ist über den Mangel an präzisen Verpflichtungen besorgt, da das Abkommen so verwässert und zu einer «blossen Absichtserklärung» werde.
Einige Organisationen der Zivilgesellschaft fürchtenExterner Link, dass die KI-Konvention zu vieldeutig ist, um effektiv zu sein und dass eine Nicht-Einhaltung unmöglich nachzuweisen wäre. So wären keine echten Sanktionen oder konkrete Strafen möglich.
Druck auf den Europarat
Mehrere Organisationen haben dem Europarat vorgeworfenExterner Link, aus den falschen Gründen heraus das globale Abkommen beschleunigt zu haben. Kritische Stimmen sagen, dass es weniger zum Schutz von Menschenrechten durchgesetzt worden sei als vielmehr, um die internationale Glaubwürdigkeit und das Prestige des Rats inmitten einer Diskussion um seine Legitimität wiederherzustellen.
Die beschlossene Konvention, so der Vorwurf, entlässt Tech-Unternehmen aus der Verpflichtung, Voreingenommenheit oder menschliche Manipulation ihrer KI-Systeme zu verhindern. Vertreter:innen der Zivilgesellschaft meinen, die während der Verhandlung gemachten Zugeständnisse sollten die USA beschwichtigen, in denen die grössten Tech-Konzerne der Welt ihren Sitz haben.
«Von Beginn an war es Strategie, eine Reihe von Beobachterstaaten einzubeziehen», sagt ein Vertreter einer Schweizer NGO der anonym bleiben möchte. Beobachterstaaten haben kein Stimmrecht, aber durchaus Einfluss in den Verhandlungen. «Der dadurch steigende Druck, einen Kompromiss zu finden, hat es erschwert, ein beschreibendes und strenges Abkommen zu schaffen», fügt er hinzu.
Schneider, der alte Hase
Schneider wurde in einer Recherche des Onlinemagazins Republik als Handlanger der USA bezeichnet, weil er angeblich den Wünschen Washingtons während der Verhandlungen gefolgt ist. Er nimmt die Kritik zur Kenntnis und macht weiter. Zusammenfassend sagt er, dass das Narrativ, die USA diktiere den Inhalt und er sei deren Puppe, «einigen Akteur:innen in Brüssel passt, um Druck auf mich und das Sekretariat während der Verhandlungen auszuüben». Der 52-Jährige weiss, dass er es nicht allen recht machen kann.
Schneider trägt eine pastellfarbenes Jackett mit bunten Knöpfen und ein Hemd mit Icons einer Messenger-App und scheint sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen. Er präsentiert sich als demütiger Staatsdiener, der Entscheidungen nie aus Karriereerwägungen tätigte. Seine Erfahrung spricht für sich: Der Diplomat arbeitet nun seit fast zwei Jahrzehnten in Regierungen und Regulierungsorganen in grossen internationalen Organisationen, von den Vereinten Nationen bis zur Internetorganisation ICANN und anderen.
Sein Verhandlungsgeschick reicht bis in seine Schulzeit in einem kleinen Dorf im Ostschweizer Kanton St. Gallen zurück. «Ich bin früher als andere eingeschult worden und war kleiner und schwächer als viele in meiner Klasse», erinnert sich Schneider. Bereits damals lernte er, durch seine Überredungskünste zu punkten. Dies machte ihn auch in seinem Berufsleben sehr erfolgreich: Er wurde Botschafter und 2017 Direktor für internationale Angelegenheiten im Bundesamt für Kommunikation (BAKOM).
«Wir sind ein kleines Land. Wir brauchen gute Argumente, bessere Vorschläge als die anderen und müssen hart arbeiten, um zu überzeugen», sagt Schneider, der seit 2006 verschiedene Ausschüsse und Expert:innengruppen des Europarats leitet und seit 2022 Vorsitzender des Ausschusses für Künstliche Intelligenz ist.
War die KI-Konvention wirklich ein Erfolg?
In dieser Rolle ist es Schneider mit dem ersten globalen KI-Abkommen gelungen, einen Meilenstein zu setzen. Dieser trieb auch Länder ausserhalb der EU dazu an, neue Technologien im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) einzuführen, dem wichtigsten Rechtsinstrument, das der Europarat 1950, im Jahr nach seiner Gründung, geschaffen hat.
Bisher haben neun Länder, einschliesslich der USA, sowie die EU die KI-Konvention unterzeichnetExterner Link, die Schweiz und viele anderen müssen sich dem noch anschliessen. Damit das Abkommen bindenden Charakter erhält, müssen Staaten es auf internationaler Ebene ratifizieren. Jedes Land kann dies in seinem eigenen Tempo tun, der Weg zur Implementierung ist daher lang.
Dennoch wird die KI-Konvention als Erfolg für den Europarat und als Erfolgsbilanz für Schneider gefeiert. Etliche Mitglieder des KI-Ausschusses schreiben ihm den Erfolg zu.
«Es ist eine sehr herausfordernde Aufgabe, die Rechtsprechung aller Länder zusammen zu bringen», sagt Florian Kreiken, Mitglied der niederländischen Delegation. «Nach den vielen Jahren Arbeit sind wir sehr stolz auf die Konvention», bestätigt seine Kollegin Monika Milanović. Sogar Schneiders Nachfolger, der Spanier Ramos Hernandez, der den Vorsitz des Ausschusses im September übernommen hat, sagt, die Fussstapfen seines Vorgängers seien gross. «Er hat einen aussergewöhnlich guten Job gemacht.»
Auch das US-Aussenministerium lobte Schneider und beschreibt seine Arbeit in einer E-Mail als «ausschlaggebend für den Erfolg der Konvention». Der einzige US-Delegierte, der am Treffen in Strassburg teilnahm, sagte, er sei nicht befugt Interviews zum Thema zu geben.
Unternehmensverantwortung im Austausch für eine US-Unterschrift
Doch es schweben Wolken über dem, was mittlerweile für einige «Schneider-Konvention» heisst, und auch über dem Europarat. «Um die USA [und andere Länder] zu einer Zustimmung und Unterschrift zu bewegen, wurde wohl ein Zugeständnis gemacht, welches es jedem Land erlaubt, private Unternehmen aus den Verpflichtungen des Vertrags auszuschliessen», schreibt David Sommer, Experte bei der Organisation Digitale Gesellschaft, auf Anfrage.
Er deutet an, dass manche Organisationen der Zivilgesellschaft das Gefühl hatten, Thomas Schneider habe wesentlich daran mitgewirkt, die Verhandlungen in diese Richtung zu lenken. Andere vermuten, dass sein mutmassliches Umwerben der USA von weiter oben im Europarat angeordnet wurde. «Ich weiss nicht, wie frei Thomas in seinem Handeln war», schreibt Sommer.
Francesca Fanucci teilt diese Einschätzung. Sie kritisiert Schneider dafür, trotz Bedenken der Zivilgesellschaft Abkürzungen genommen zu haben, um das Ziel möglichst schnell zu erreichen. «Wir waren etwas beunruhigt über die Art und Weise, wie die Schweizer Neutralität in einigen Sitzungen verloren ging», sagt die Rechtsexpertin.
Gemeinsam mit den USAExterner Link stimmten auch KanadaExterner Link und Grossbritannien gegen rechtsverbindliche Verpflichtungen in der KI Konvention für private Unternehmen, die KI entwickeln und für kommerzielle Zwecke nutzen. Kein Vertreter:innen dieser Länder wollten sich dazu gegenüber SWI swissinfo.ch äussern.
Den Vertrag in trockene Tücher bekommen
Der Europarat nennt die Vorwürfe «unbegründete Spekulationen». Ein Sprecher schreibt per Email, es seien die Mitgliedsstaaten innerhalb des Komitees, die Verhandlungen zu einem Schlusspunkt führen und das Ergebnis bestimmen.
Schneider schliesst sich dieser Position an und weist Kritik an ihm zurück. Er betont, der Vorsitzende moderiere die Diskussion und versuche, eine gemeinsame Position zu finden. Es seien aber die 46 Mitgliedsstaaten, die über den Inhalt der Konvention entschieden. «Alle 46 stimmten einstimmig zu, dass der Vertrag eine globale Wirkkraft haben und nicht auf Europa beschränkt sein solle«, merkt er an. Er unterstreicht zudem, dass jeder Einwand gehört worden sei.
Schneider findet die Kritik wegen eines US-Einflusses seltsam, angesichts der unbestreitbaren Macht der 27 Länder, die gemeinsam mehr als die Hälfte des Komitees ausmachen. «Im Ganzen hatten die EU und andere Mitgliedsstaaten mehr Redezeit als die USA und Kanada», erinnert er sich. Er habe nicht für einen Kompromiss geworben, sondern lediglich versucht, alle Länder zu einer Zustimmung zu einem Entwurf zu bewegen, der am 15. März vorliegen musste.
Kristian Bartholin, Sekretär des KI-Ausschusses, verteidigt Schneider auch. Dieser habe sich sehr bemüht, ein neutraler Moderator zu sein und zugleich ein Ergebnis herbeizuführen, dem sowohl europäische als auch nicht-europäische Staaten zustimmen. «Wenn wir unsere Bürgerinnen und Bürger schützen wollen, müssen wir dafür sorgen, dass sich nicht nur europäischen Staaten sondern auch die Hauptproduzent:innen von KI-Technologien an Grundstandards halten», unterstreicht er.
Dennoch bleibt der Verdacht bestehen, dass der Europarat um jeden Preis eine Übereinkunft erzielen wollte, um sich vor der Welt Legitimität zu verleihen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat die EU eine immer zentralere Rolle in der Steuerung der Bürgerrechte und Sicherheitspolitik eingenommen. Dass Russland bis 2022Externer Link Mitglied des Europarats war, beschädigte die Glaubwürdigkeit dieser Institution, deren Staaten sich Menschenrechten und demokratischer Werte verschreiben sollten.
Die wuchtigen Sofas und das spärliche Dekor in dem neuen Gebäude des Rats in Strassburg sprechen für die Einschätzung etlicher Beobachter:innen: Der Europarat befindet sich «seit langem im Niedergang, ohne Macht und ohne Glaubwürdigkeit», schrieb ein Genfer Universitätsprofessor jüngst in der Zeitung Le TempsExterner Link. Andere glauben wiederum, dass eben diese «Diskretion und Bescheidenheit» dem Rat helfe, beim Thema Recht auch in Ländern ausserhalb der EU Fortschritte zu erzielen.
Die Schweiz: Eine stabile Präsenz im Europäischen Rat
Eins steht fest: Schneiders Karriere befindet sich nicht im Abschwung, sondern auf ihrem Höhepunkt. Er hat seine letzte Sitzung als Vorsitzender des KI-Ausschusses hinter sich und sei nun erleichtert, den Stab weiterzureichen, sagt er. Doch er bleibt im Spiel: Er ist weiter als Vize-Präsident des Ausschusses aktiv und bleibt mit einem Fuss in Strassburg.
Und die Schweiz wird als Nicht-EU-Mitglied weiterhin in einer der grössten europäischen Institutionen gut vertreten sein und kann dort eine bedeutende Rolle spielen. Im September hat der ehemalige Bundesrat Alain Berset sein Amt als neuer Generalsekretär des Europarats angetreten. Berset hält KIExterner Link für einen «Paradigmenwechsel» und eine «Bedrohung für die Demokratie» und spricht sich für eine Regulierung aus.
Schneider wiederum sieht in der Technologie den Schlüssel zur Bewältigung immenser Herausforderungen wie dem Klimawandel und dem Management von Energieressourcen. Und doch ist er sich der wachsenden Gefahr bewusst, die Algorithmen für die Demokratie und freie Meinungsäusserung darstellen. Er hofft, dass die Konvention dazu beiträgt, die Risiken und Schäden von KI durch einen rechtlichen Rahmen einzudämmen.
«Ob dies funktioniert, werden wir in zehn oder zwanzig Jahren sehen», sagt er.
Editiert von Sabrina Weiss und Veronica de Vore. Übertragung aus dem Italienischen: Petra Krimphove/jg/me/bvw
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