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Können Gehirnforscher unsere Gedanken lesen?

In den letzten 15 Jahren gab es grosse Fortschritte beim Verständnis der spezifischen Funktionen der verschiedenen Hirnregionen. null

Eine leistungsstarke Abbildungs-Technologie hat zu einem besseren Verständnis geführt, wie unser Hirn funktioniert. Müssen wir nun besorgt sein, dass unsere Gedanken von Aussen kontrolliert werden?

In Genf diskutierten im Rahmen der Internationalen Woche des Gehirns (Brain Week) Neurowissenschafter über die Erschliessung der Geheimnisse in unseren Köpfen und etwaige daraus erwachsende ethische Probleme.

Brain Week hat sich in den letzten 12 Jahren in Europa etabliert. In der europäischen Dana Allianz für das Gehirn (EDAB), welche die Brain Weeks jeweils koordiniert, sind über 170 Gehirnforscher aus 27 Ländern, darunter fünf Nobelpreisträger, organisiert.

Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, die Öffentlichkeit über die Gehirnforschung zu informieren.

In den vergangenen 15 Jahren hat sich die Neurowissenschaft spektakulär entwickelt. Sie konnte von der deutlich leistungsfähigeren und präziseren Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT) profitieren, sagte Patrik Vuilleumier, Direktor des Neurowissenschaftlichen Zentrums der Genfer Universität vor 300 interessierten Zuhörern.

«Zwar wurden beim Verständnis für die spezifischen Aufgaben der verschiedenen Hirnregionen grosse Fortschritte erzielt. Ich glaube jedoch nicht, dass wir im Moment viel zu befürchten haben», sagte er.

Denn obwohl Neurowissenschafter heute Gehirnaktivitäten verschiedene Arten von Erinnerungen zuweisen können, sei es noch ein sehr langer Weg zum Lesen, zur Decodierung unserer Gedanken, sagte Vuilleumier.

Forschungsarbeit

Inzwischen sind die meisten Hirnregionen untersucht und gut dokumentiert. So haben wir ein besseres Verständnis dafür, wie das menschliche visuelle System Objekte , Muster, Gesichter erkennt.

Auch weiss man heute mehr darüber wie wir Klänge und Stimmen wahrnehmen, wie wir auf Emotionen und soziale Signale wie Mimik oder Blicke reagieren. Ein Forschungsbereich, der sich rasant entwickelt, ist die Klassifikation von MRT-Pixel-Mustern, die auf den aufgenommenen Bildern basieren.

Im März 2008 hatten Forscher der California University ein Modell kreiert um Hirninformationen zu dekodieren. Eine Identifizierung gelang ihnen mit der Beobachtung eines Patienten, der ein spezielles Bild unter Dutzenden von anderen betrachtete.

Ein paar Monate später gingen japanische Neurowissenschafter noch weiter, indem sie ein Bild von jemandem, der in einem MRT-Scanner lag, identifizierten. Darauf rekonstruierten sie das Bild auf dem Bildschirm, jedoch nur in einfachen geometrischen Formen.

Geräusche und Raum

Die Forschung zur Decodierung von Gehirn-Reaktionen auf Geräusche und Stimmen nehme sehr stark zu, sagte Vuilleumier.

«Es ist möglich, verschiedene Menschen zu unterscheiden, wie sie Vokale betonen oder wenn sie Wut oder Traurigkeit ausdrücken», sagte er.

Britische Wissenschafter haben kürzlich eine Studie zum räumlichen Gedächtnis veröffentlicht. Sie konnten genau die Position vorhersagen, die jemand in einer virtuellen Umgebung einnahm, nur aus der Deutung der Aktivität in einem Teil des Hirns, dem Hippocampus, der evolutionär zu den ältesten Strukturen des Gehirns zählt.

Die Studie war ein Teil einer Untersuchung, die herausfinden wollte, wie Erinnerungen erstellt, gespeichert und wieder aufgerufen werden. Die Forschung des britischen Teams hat eine ethische Debatte ausgelöst. So wird diskutiert, ob Hirnabbildungen verwendet werden können und ob es Garantien gebe oder brauche, welche die Privatsphäre der Menschen schützen könnten.

Ethische Fragen

Auch im Kreis der Neurowissenschafter würden ethische Diskussionen geführt, vor allem in Bezug auf Verantwortung und freien Willen, sagte Vuilleumier. Die intensivsten ethischen Diskussionen drehen sich momentan um den Missbrauch. Aber das, was die Gehirnforscher tatsächlich könnten, werde oft überinterpretiert.

So habe es in der jüngsten Zeit in den Vereinigten Staaten Fälle gegeben, wo Anwälte vor Gericht einen Gehirn-Scan für ihre Klienten beantragten, um deren emotionale Reaktion zu beurteilen.

Aber die Wissenschaft sei noch nicht so weit, sagte er. Die Abbildungs-Technologie stosse an Grenzen angesichts der Komplexität unserer Gehirne und der Geschwindigkeit, in der dort die Prozesse ablaufen.

«Bei den meisten MRT-Techniken misst man Energieveränderungen in Millimeter-Pixeln, oder in Punkten im Hirn, wo es fast eine Million Neuronen gibt. Und jedes Neuron kann einen Aspekt zu unserem mentalen Zustand beitragen. Es ist also nicht möglich, das genau zu entschlüsseln», so Vuilleumier.

Im Moment können Forschende nur für eine relativ kurze Zeit Veränderungen in der Hirnaktivität messen – während 1 bis 5 Sekunden.

Kein Gedanken-Lesen

Alexandre Mauron, Professor für Bioethik an der Genfer Universität, versuchte am runden Tisch auch das Vertrauen des Publikums zu gewinnen, indem er versicherte, die jetzige Entwicklung habe nichts zu tun mit Gedankenlesen.

«Ins Reich der Fantasie gehört die Idee, dass eines Tages Maschinen in unser Universum – in unser inneres Kino – einbrechen und unsere tiefstverborgenen Gedanken entdecken könnten. Diese Fantasie ist erschreckend, denn wir haben eine Tradition der Gedankenfreiheit. Und bisher war niemand in der Lage, diese zu berühren, auch nicht unter den totalitärsten Regimes», sagte Mauron.

Unsere Kultur sei vom kartesischen Dualismus geprägt, das sei unser Problem. Dieser trenne unseren Körper – und unser Hirn – von unserer Seele, unseren Gedanken. Es sei sehr schwer, uns von dieser Art des Denkens zu trennen, sagte er weiter.

«Unsere ‹Volks-Psychologie›, unsere Art uns auszutauschen über unsere Gedanken, Emotionen, unsere psychische Verfassung, ist eine Sprache, die sich sehr von der Sprache der Neurowissenschaft unterscheidet», sagt er.

swissinfo, Simon Bradley, Genf
(Übertragung aus dem Englischen: Etienne Strebel)

In der Schweiz gibt es eine rasch wachsende Neurowissenschafts-Gemeinde. Die Schweizer Gesellschaft für Neurowissenschaften hat über 1000 Mitglieder.

Zwischen den Genfern und Lausanner Universitäten und Universitätsspitälern und der ETH Lausanne findet eine enge Zusammenarbeit statt. Es gibt dort über 80 Gehirnforschungsgruppen.

Das Zentrum für Neurowissenschaften in Zürich schafft Synergien von rund 440 Gehirnforschern und Forschungsgruppen an der ETH Zürich und der Universität Zürich.

Die Schweiz wurde als Gastgeberin für das sechste europäische Neurowissneschaftsforum gewählt, aufgrund ihrer intensiven Forschung bei den Neurowissenschaften und der gut ausgebauten Infrastruktur.

Die Magnetresonanztomographie (MRT) ist ein bildgebendes Verfahren, das vor allem in der medizinischen Diagnostik zur Darstellung von Struktur und Funktion der Gewebe und Organe im Körper eingesetzt wird.

Mit der MRT kann man Schnittbilder des menschlichen (oder tierischen) Körpers erzeugen, die eine Beurteilung der Organe und vieler krankhafter Organveränderungen erlauben.

Die MRT basiert auf sehr starken Magnetfeldern sowie elektromagnetischen Wechselfeldern im Radiofrequenzbereich, mit denen bestimmte Atomkerne im Körper angeregt werden.

Empfangen werden extrem schwache elektromagnetische Felder, die von den angeregten Atomkernen ausgesendet werden.

Im Gerät wird keine Röntgenstrahlung oder andere ionisierende Strahlung erzeugt oder genutzt.

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