Komplementärmedizin unter Druck
Ab 30. Juni müssen Patienten, die auf alternative Heilmethoden wie Homöopathie setzen, womöglich die Behandlung ganz aus der eigenen Tasche bezahlen.
Für fünf Disziplinen der Komplementärmedizin geht nach etlichen Studien und erbitterten Auseinandersetzungen eine 5-jährige Testphase zu Ende.
Keine Frage: Die Komplementärmedizin kommt an. Gemäss einer Polyquest-Umfrage vom März hat ein Drittel der Schweizer Bevölkerung schon von Heilmethoden der Komplementärmedizin Gebrauch gemacht. Und 80 Prozent waren mit den Resultaten zufrieden.
Doch für die Anhänger der sanften Medizin rückt ein wichtiges Datum näher. Bis zum 30.Juni muss Gesundheitsminister Pascal Couchepin entscheiden, ob ein Teil dieser Behandlungen weiter über die Grundversicherung der Krankenkassen abgerechnet werden kann. Es geht um chinesische Medizin, Homöopathie, Phytotherapie, Neuraltherapie und Anthroposophische Medizin.
Wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich?
Diese fünf Disziplinen waren 1999 provisorisch in den Katalog der obligatorischen Versicherungsleistungen aufgenommen worden. Die damalige Gesundheitsministerin Ruth Dreifuss wollte damit den Erfolgen der Komplementärmedizin Anerkennung einräumen.
Mit einer 7 Mio. Franken teuren Studie (PEK – Programm Evaluation Komplementärmedizin) hat man seither versucht festzustellen, ob die Komplementärmedizin in den fünf genannten Disziplinen den Zielsetzungen des Krankenversicherungsgesetztes (KVG) entspricht. Das heisst: Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit (KVG Art. 32).
Für Jörg Fritschi, den Präsidenten der Union schweizerischer komplementärmedizinischer Ärzteorganisationen (Union), ist die PEK-Studie «im internationalen Kontext einmalig». Sie hätte eine «einmalige Möglichkeit darstellen sollen, um Brücken zwischen der Schulmedizin und der Alternativmedizin zu bauen».
Doch es gab methodologische und kommunikative Probleme. Ausserdem geriet man sich bei der Interpretation der Daten in die Haare. Nicht alle Erhebungen wurden zudem zu Ende geführt.
Ein schwieriger Entscheid
Über die Daten der PEK herrscht ein grosses Durcheinander. Das Bundesamt für Gesundheitswesen (BAG), das die Studie lanciert hat, verbot ihre Publikation vor dem Entscheid Couchepins. «Dieses Verfahren ist ganz normal», sagt BAG-Sprecher Daniel Dauwalder. Denn es handle sich um einen internen Verwaltungsentscheid.
Die Fachleute für Komplementärmedizin, die an der PEK-Studie teilgenommen haben, fürchten ihrerseits, dass ohne eine Veröffentlichung der Ergebnisse die Daten gegen ihre Interessen verwendet werden könnten.
In der Öffentlichkeit scheint man sich indes schon eine eigene Meinung gemacht zu haben. In wenigen Monaten hat die Volksinitiative «Ja zur Komplementärmedizin» mehr als 120’000 Unterschriften gesammelt. Und gemäss Meinungsumfragen sind vier von fünf Personen der Auffassung, dass alternative Behandlungsmethoden im Leistungskatalog der Grundversicherung bleiben müssen. Ein Nein von Couchepin könnte somit durch einen Volksentscheid umgestossen werden.
Zumal die Komplementärmedizin nur 0,2 % der Gesamtkosten der Krankenversicherer ausmacht (Daten von 2003). Zwar könnte durch die 2004 erfolgte Einführung des neuen Abrechnungssystems Tarmed dieser Prozentsatz markant ansteigen. Doch eine Verlagerung der Komplementärleistungen in Zusatzversicherungen scheint das Problem nicht zu lösen.
Homöopathie in Gefahr
Für Daniel Dauwalder stehen Gesundheitsminister Couchepin mehrere Möglichkeiten offen: «Er könnte definitiv alle fünf Disziplinen anerkennen. Er könnte aber auch nur einen Teil anerkennen, andere provisorisch weiter führen und begleitende Studien anordnen.»
Für den Vizepräsidenten der Union, Bruno Ferroni, erfüllen alle fünf Disziplinen die erforderlichen Kriterien des KVG. Dabei steht die von Ferroni praktizierte Homöopathie aber besonders auf der Kippe. Die Wirksamkeit der Homöopathie ist durch Studien der klinischen Medizin in Frage gestellt.
Die Aussichten für die anderen vier Disziplinen stehen offenbar besser. Doch unklar ist, ob sie gesamthaft anerkannt werden oder nur für diejenigen Aspekte, deren Wirksamkeit gemäss den Kriterien der Schulmedizin erwiesen ist.
Dabei scheiden sich genau an diesem Punkt die Geister. Denn viele Anhänger der Komplementärmedizin suchen diese Behandlungsmethoden gerade, weil sie das menschliche Wesen gesamthaft als Organismus betrachten, an dem nicht einzelne Teile kuriert werden können, ohne auf das Ganze zu sehen.
swissinfo, Doris Lucini
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
In der Schweiz praktizieren 270 Homöopathen.
Zwischen 300 und 400 Ärzten praktizieren traditionelle chinesische Medizin (ohne Akupunktur).
250 Ärzte sind auf Phytotherapie,
106 Ärzte auf Neuraltherapie spezialisiert.
150 anthroposophische Mediziner.
Im Jahr 2003 machen die Leistungen der Komplementärmedizin 0, 2% der von den Krankenkassen bezahlten Leistungen aus (30 Mio Franken).
Seit 1999 können Behandlungen durch Chinesische Medizin, Homöopathie, Phytotherapie, Neuraltherapie und Anthroposophische Medizin über die Grundversicherung der Krankenkassen abgerechnet werden.
Am 30. Juni 2005 läuft die provisorische Phase der Anerkennung aus. Gesundheitsminister Couchepin muss bis dahin entscheiden, ob eine definitive Ankerkennung erfolgt.
Der anstehende Entscheid betrifft die Akupunktur nicht, auch wenn sie Teil der Komplementärmedizin ist. Diese Behandlung wird auf alle Fälle weiterhin durch die Grundversicherung abgedeckt.
Um festzustellen, ob die Komplementärmedizin im Sinne des Krankenversicherungsgesetzes «wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich» ist, hat der Bund eine begleitende Studie (PEK) in Auftrag gegeben. Sie kostete 7 Mio Franken. Ihre Ergebnisse werden aber erst nach dem Ministerentscheid bekannt gegeben.
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