Leitplanken gesucht
Embryonen-Schutz versus Forschungs-Freiheit: Die Debatte über die Stammzellen-Forschung ist nun auch in der Schweiz lanciert.
Exakt 224 Seiten umfasst der Bericht, den das Zentrum für Technologiefolgen-Abschätzung (ZTA) am Montag den Medien und interessierten Parlamentarierinnen und Parlamentariern vorstellte. Es ist eine Auslege-Ordnung des ethischen, juristischen und naturwissenschaftlichen Kenntnisstandes rund um die Stammzellen-Forschung. Zudem werden die offenen Fragen aufgelistet – ein umfangreicher Katalog.
Forschung preschte vor – Gesetzgeber folgt nun nach
Wie soll die Schweiz die Forschung an embryonalen Stammzellen regeln? – Diese Frage erhielt im vergangenen September Brisanz, als der Schweizerische Nationalfonds ein Gesuch von Genfer Forschern bewilligte, um mit importierten menschlichen Stammzellen zu arbeiten.
Damit wurden Fakten geschaffen – nicht zur Freude der zuständigen Ministerin und der Ethikkommission. Als positive Auswirkung des Vorpreschens wurde in der Verwaltung und auch in der Öffentlichkeit die Diskussion intensiviert und beschleunigt: In einigen Wochen will die Regierung ihren Gesetzes-Entwurf vorstellen, in dem die Leitplanken für die Stammzellen-Forschung geregelt werden.
Bislang ist in der Schweiz die Forschung an Embryonen verboten – nicht jedoch jene an importierten Stammzellen. Für Bundesrätin Ruth Dreifuss ist dies eine «heuchlerische» Haltung, wie sie diesen Februar in der «Basler Zeitung» sagte.
Medizinische Hoffnungen…
Stammzellen sind sozusagen «Alleskönner-Zellen». Zentral sind ihre beiden einzigartigen Eigenschaften: Es sind undifferenzierte Zellen, die sich vermehren können. Ausserdem differenzieren sie sich unter geeigneten Bedingungen zu vielfältigen Zell- und Gewebetypen.
Die Medizin setzt grosse Hoffnungen in die Stammzellen: Geschädigte oder zerstörte Zellen sollen dereinst durch neue, funktionstüchtige Zellen ersetzt werden, die aus Stammzellen gewonnen werden.
Mögliche Anwendungs-Bereiche sind beispielsweise Nervenzellen-Erkrankungen wie Parkinson, Alzheimer oder Multiple Sklerose sowie die Transplantations-Medizin (neue Herzklappen, Leber- oder Nierengewebe aus Stammzellen) und Diabetes.
Noch ist die Forschung mit Stammzellen weitgehend in der Experimentier-Phase: Die meisten Publikationen sind Grundlagen-Forschung oder Tierexperimente, wirklich praxiserprobte Therapien für kranke Menschen stehen aus.
… gegen ethische Bedenken
Knackpunkt bei der Stammzellen-Forschung ist deren Gewinnung. Gearbeitet wird einerseits mit embryonalen, andererseits mit adulten Stammzellen, mit Zellen von bereits geborenen Menschen.
Adulte Stammzellen sind beispielsweise die blutbildenden Zellen: Damit arbeitet die Medizin seit langem, zum Beispiel bei Leukämie. Es ist eine der wenigen altbekannten Therapien mit Stammzellen.
Dieser Forschungszweig ist nicht gross umstritten – allerdings ist noch offen, für welche weiteren Anwendungs-Bereiche adulte Stammzellen eingesetzt werden können.
Ethisch heftig umstritten ist ein anderer Bereich: die Forschung mit embryonalen Stammzellen. Hier preschte vor Jahresfrist England europaweit vor und erlaubte, menschliche Embryos mit bestimmten genetischen Eigenschaften gezielt herzustellen, um Stammzellen zu gewinnen («therapeutisches Klonen»: derart hergestellte Zellen und Gewebe werden vom Körper des Empfängers nicht abgestossen).
Erlaubt ist dies neben Grossbritannien in den USA und in Israel. In vielen anderen Ländern gibt es grosse Widerstände gegen eine solche «Instrumentalisierung von Leben». Die Schweizer Bundesverfassung verbietet zurzeit die Erzeugung von menschlichen Embryonen zu Forschungs-Zwecken.
Überzählige Embryonen freigeben?
Embryonale Stammzellen können jedoch auch anders gewonnen werden: aus «überzähligen» Embryonen bei der In-vitro-Fertilisation. Von früher her, als die Aufbewahrung in der Schweiz noch erlaubt war, lagern in Gefrierschränken von Kliniken etwa 1000 überzählige Embryonen.
Nach einer intensiven Debatte sieht beispielsweise Frankreich vor, die Forschung mit so gewonnenen Stammzellen zu erlauben. Ob und allenfalls unter welchen Bedingungen dies auch in der Schweiz der Fall sein wird, hängt sicher von den Reaktionen auf den Gesetzes-Entwurf der Regierung ab.
Breite Diskussion – Druck von Wissenschaft und Wirtschaft
Die forschende Industrie wie auch medizinische und Natur-Wissenschafter an den Hochschulen wollen mit embryonalen Stammzellen arbeiten.
Es gehe darum, dass die Schweiz in diesem zukunftsträchtigen Bereich ihre Position als Forschungs-Nation nicht verliere, wird argumentiert. Gerade bei der Industrie geht es aber wohl auch um viel Geld – gehofft wird auf Therapien für Millionen von Menschen, vor allem in Industrienationen.
Mit dem nun vorliegenden Bericht legt das Zentrum für Technologiefolgen-Abschätzung einen ersten umfassenden Bericht über die verschiedenen Bereiche vor, die es in der Diskussion der nächsten Monate zu berücksichtigen gilt.
Neben den Parteien und Organisationen, die sich im normalen Gesetzgebungs-Prozess zu einem Regierungs-Entwurf äussern, plant das ZTA Diskussions-Runden mit «normalen» Bürgerinnen und Bürgern. Denn, so der Leiter des ZTA, «es ist ausserordentlich wichtig, neben fundierten wissenschaftlichen Experten-Meinungen in der Stammzell-Debatte auch ‹Menschen von der Strasse› zuzuhören».
Eva Herrmann
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