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Neue Regeln für die Forschung am Menschen

Medizin, Psychologie, Soziologie: In vielen Wissenschaften stehen die Menschen im Zentrum der Forschung. Doch die Bundesverfassung hat dies bis heute nicht ausreichend berücksichtigt. Diese Lücke soll nun geschlossen werden.

Louise Brown, geboren 1978 in England, ist das erste Kind, das im Reagenzglas gezeugt wurde. In der Schweiz begann die Diskussion um die medizinisch unterstützte Fortpflanzung jedoch erst 10 Jahre später. Ein entsprechendes Gesetz trat im Januar 2001 in Kraft.

Auch bei der Forschung mit embryonalen Stammzellen gaben erste Anwendungen (von Marisa Jaconi in Genf) den Anlass zu einem Gesetz. Das Stammzellen-Forschungsgesetz trat am 1. März 2005 in Kraft, nachdem es in einer Volksabstimmung angenommen worden war.

Diese gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Forschung – namentlich im biomedizinischen Bereich – entstanden ohne eine entsprechende Verfassungsgrundlage. Dies soll sich nun ändern.

Die Landesregierung hat einen Entwurf für einen Verfassungsartikel (Art. 118a) vorgelegt. Dieser überträgt dem Bund die Kompetenz, Gesetze zu erlassen, und regelt die wichtigsten Grundsätze für die Humanforschung.

Einheitliche Richtlinien fürs Land

Bevor der neue Verfassungsartikel in Kraft treten kann, muss er zuerst vom Parlament und danach in einer Volksabstimmung gutgeheissen werden.

Die Schweiz hat sich offenbar erst sehr spät um diesen fundamentalen Forschungsbereich gekümmert, in dem es um Grundsatzfragen wie die Menschenwürde geht.

«Es stimmt aber nicht, dass bisher nichts gemacht wurde», sagt die Sozialdemokratin Josiane Aubert, Präsidentin der vorberatenden Nationalratskommission, die den Verfassungsentwurf des Bundesrats befürwortet.

Laut Aubert «haben viele Kantone Normen aufgestellt und Ethikkommissionen ins Leben gerufen». Forschungszentren und Universitätsspitäler hätten zudem interne Richtlinien verabschiedet, um die Einhaltung der Menschenwürde zu gewährleisten. «Doch es war nun nötig, das ganze Regelwerk national zu vereinheitlichen», so Aubert.

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Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Abstimmung oder Wahl, bei der die teilnehmenden Stimmberechtigten den Stimm- oder Wahlzettel im Abstimmungslokal in die Urne werfen. Diese traditionelle Art der Abstimmung oder Wahl wird heute immer mehr durch die briefliche Stimmabgabe und da und dort bereits durch die elektronische Stimmabgabe ersetzt. (Quelle: Glossar Bundesbehörden)

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Rechte beklagt zu viele Vorschriften

Auch wenn die Aufnahme eines Artikels in die Verfassung zur Forschung am Menschen grundsätzlich begrüsst wird, dürfte es am 15. September in der Debatte im Nationalrat zu Meinungsverschiedenheiten kommen.

Vor allem zwei Punkte sind umstritten: Die allgemeinen Prinzipien, an die sich der Bund halten muss, sowie die Möglichkeit zur Forschung an urteilsunfähigen Personen (beispielsweise Kinder oder Alzheimer-Kranke).

Namentlich die politische Rechte (Schweizerische Volkspartei, SVP) kritisiert die allgemeinen Leitlinien (Einwilligungspflicht betroffener Personen), weil ihrer Meinung nach die entsprechenden Prinzipien schon in der Europäischen Konvention zur Biomedizin enthalten sind, die von der Schweiz unterzeichnet wurde. Die vorbereitende Kommission will aber nicht auf diese Leitlinien verzichten.

Was tun mit urteilsunfähigen Personen?

Umstritten ist zudem ein ethischer Aspekt, der das Verhältnis von menschlicher Würde und Forschungsfreiheit betrifft. Der Gesetzesentwurf legt fest, dass die Menschwürde höher zu bewerten ist.

Forschung darf daher nicht an Menschen vorgenommen werden, die nicht eingewilligt haben, oder dies nicht tun können, weil sie verstorben sind. Dies gilt auch für eine einfache Speichelentnahme.

Was bedeutet dies für Forschungen an Kindern, an Behinderten oder Kranken, die nicht urteilsfähig sind? «Die Forschung in all diesen Fällen zu verbieten, würde heissen, genau diese Kategorie von Personen von künftigen Behandlungen auszuschliessen», argumentiert die Psychologin Verena Schwander, die den Verfassungsartikel mit ausgearbeitet hat.

Denn nur durch spezifische Erkenntnisse könnten spezifische Therapien entwickelt werden. Organismen von Kindern reagierten beispielsweise auf Medikamente anders als diejenigen von Erwachsenen.

Vormund hat das Sagen

Das Gesetz sieht vor, dass im Fall von Urteilsunfähigkeit der gesetzliche Vertreter die Einwilligung zur Forschung geben muss. Zudem müssen die Risiken «auf ein Minimum» reduziert werden, wenn die Versuche mit einer Therapie keinen direkten Nutzen für den Probanden ergeben.

Ein Totalverbot der Forschung mit diesen Personen wird im Namen einer «gewissen sozialen Solidarität» ausgeschlossen: Alle sollen die Möglichkeit haben, etwas Gutes für den Nächsten zu tun.

Für den Rechtswissenschafter Kurt Seelmann ist diese Formulierung nicht klar genug. «Es wird nicht genau definiert, was man unter ‹Minimalrisiken› zu verstehen hat», meint er.

Seiner Meinung nach kann die Solidarität nicht wehrlosen Personen verordnet werden, genauso wie niemand zum Blutspenden gezwungen werden könne, um Verkehrsopfer zu retten.

«Insgesamt ist der Vorschlag in Ordnung. Doch in der Passage über Minimalrisiken sollte angefügt werden, dass die physische Integrität nicht verletzt werden darf.» Nur so kann gemäss Seelmann eine Instrumentalisierung der Forschung vermieden werden.

swissinfo, Doris Lucini
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Die Herbstsession des Schweizer Parlaments findet vom 15. September bis 3. Oktober statt. Das Rüstungsprogramm und die Zielsetzung der Armee sind zentrale Traktanden.

Dabei ist die Stimmung nach den Diskussionen um Bundesrat Samuel Schmid und den ehemaligen Armeechef Roland Nef aufgeheizt. Grüne und SVP fordern gar eine Armee-Sonderdebatte.

Weitere wichtige Traktanden sind die Gesamtschau zu den Grossprojekten im Öffentlichen Verkehr (Finöv) sowie die Güterverkehrs-Vorlage mitsamt Debatte um die Einführung einer Alpentransitbörse, ausserdem das Kulturförderungs-Gesetz und die berufliche Vorsorge.

Der Ständerat (Kantonskammer) kümmert sich um das Militärgesetz und die Verschiebung der Kompetenzen zwischen Militär- und Ziviljustiz. Besonders heftig dürften die Auseinandersetzungen um die Parallelimporte werden.

Zur Zeit ist die Forschung am Menschen auf Bundesebene in der Schweiz nur für einige spezifische Sektoren geregelt (Reproduktionsmedizin, Genetik, Organspende).

Der Verfassungsentwurf überträgt dem Bund eine umfassende Zuständigkeit zur Regelung der Forschung am Menschen und schreibt die vier wichtigsten Grundsätze fest:

1. Jedes Forschungsvorhaben setzt voraus, dass betroffene Personen nach hinreichender Aufklärung eingewilligt haben. Eine Ablehnung der Betroffenen ist in jedem Fall verbindlich. Damit darf niemand gegen seinen Willen in ein Forschungsvorhaben einbezogen werden.

2. Die Risiken und Belastungen für teilnehmende Personen dürfen nicht in einem Missverhältnis zum Nutzen des Forschungsvorhabens stehen.

3. Urteilsunfähige Personen dürfen grundsätzlich in Forschungsvorhaben miteinbezogen werden. Sie müssen aber im Vergleich zu urteilsfähigen Personen besonders geschützt werden und die «Risiken auf ein Minimum reduziert werden».

4. Eine unabhängige Überprüfung der Forschungsprojekte muss ergeben haben, «dass der Schutz der teilnehmenden Personen gewährleistet ist».

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