Nobelpreisträger Carlo Rubbia und das CERN, eine verflochtene Geschichte
Der 90-jährige italienische Physiker Carlo Rubbia hat vor 40 Jahren den Physik-Nobelpreis für seine Beteiligung an einem grossen Experiment am Kernforschungszentrum CERN in Genf erhalten. Wir haben mit ihm die Geschichte seiner Entdeckung nachgezeichnet.
Was für ein Jubiläumsjahr: Carlo Rubbia durfte nicht nur seinen 90. Geburtstag feiern, sondern auch den 40. Jahrestag seines Nobelpreises. Der italienische Physiker hatte ihn 1984 für eine Arbeit am Genfer Forschungszentrum CERN erhalten. Das CERN in Genf begeht just in diesem Jahr sein 70-jähriges Bestehen.
Rubbia hat den Nobelpreis für Physik erhalten, war aber auch 20 Jahre lang Professor an der Universität Harvard und fünf Jahre Generaldirektor des CERN (1989-1994). Er hat unzählige Experimente geleitet und geplant. Zudem wurde er zum Senator auf Lebenszeit der Italienischen Republik ernannt und erhielt mehr als dreissig Auszeichnungen und Ehrendoktortitel.
Diese Auflistung ist nicht vollständig. Heute ist Carlo Rubbia immer noch Ehrenmitglied des CERN, einer Institution, der er viel gegeben hat, von der er aber auch viel erhalten hat.
Seine Geschichte beginnt kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als die wissenschaftliche Gemeinschaft über ein europäisches Kernphysikzentrum nachdachte. Das Ziel war es, die auf Grund der Atombomben-Explosionen gespaltene Wissenschaftsgemeinschaft zu einen.
Carlo Rubbia (geboren am 31.März 1934) war damals noch Schüler in Gorizia (Italien). Seine Mutter war Lehrerin und der Vater Elektroingenieur. Er selbst war fest entschlossen, sich der wissenschaftlichen Forschung zu widmen.
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Während der junge Carlo zwischen Friaul-Julisch Venetien und Venetien aufwuchs, bemühten sich renommierte Physiker wie der Franzose Louis de Broglie, der Italiener Edoardo Amaldi und der Schweizer Paul Scherrer unermüdlich um Unterstützung und finanzielle Mittel für das Projekt eines gemeinsamen europäischen Labors.
Nachdem die Unterstützung aus der Politik und die Finanzierung gesichert sowie Genf als Sitz festgelegt war, unterzeichneten zwölf Nationen die Verfassung des Conseil européen pour la recherche nucléaire (CERN), der bald den Namen «Organisation für Europäische Kernforschung» erhalten sollte. Das war 1954, vor genau 70 Jahren, und Carlo Rubbia war zu diesem Zeitpunkt Student am Mailänder Polytechnikum.
Rubbia schloss sein Physikstudium an der Universität Pisa und der dortigen Scuola Normale Superiore ab. Ende der 1950er Jahre kam er dann erstmals mit seinem Lehrer, Professor Marcello Conversi, in die Schweiz zum CERN. «Das waren just die Anfangsjahre des Kernforschungslabors», erinnert er sich.
Während in Genf die ersten Teilchenbeschleuniger gebaut wurden, nahm die brillante akademische Karriere von Carlo Rubbia ihren Lauf. «Ich begann Anfang der 1960er Jahre am CERN zu arbeiten. Gleichzeitig wurde mir eine feste Stelle in Harvard, USA, als ‹Higgins Professor› angeboten. Dort blieb ich fast zwanzig Jahre lang», erzählt er. Dabei sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Hälfe der Professoren an der Fakultät für Physik an der Harvard Universität Nobelpreisträger waren.
Die Entdeckung seines Lebens
1983 macht er dann die Entdeckung seines Lebens – eine Entdeckung, die nicht nur seine eigene Berufskarriere, sondern auch die Wissenschaft verändert. Carlo Rubbia und sein Team beobachten zum ersten Mal die W- und Z-Bosonen. Dabei handelt es sich um zwei Elementarteilchen, von denen nur wenige Menschen je gehört haben.
Dabei steuern diese Teilchen die internen Prozesse der Sonne und der anderen Sterne. Die Rede ist hier von der subatomaren Welt, den kleinsten Bestandteilen der Materie. Der Massstab ist weniger als ein Millionstel eines Milliardstels eines Meters. Das entspricht in etwa dem Durchmesser eines Haares im Vergleich zur Entfernung Erde-Sonne.
Die theoretische Physik ist überzeugt, dass das gesamte Universum (und somit auch der menschliche Körper) von vier fundamentalen Wechselwirkungen bestimmt wird.
Die erste und vielleicht bekannteste ist die elektromagnetische Wechselwirkung, die durch Photonen generiert wird (Magnetismus, Licht). Die zweite ist die Gravitationskraft (Anziehung zwischen Massen), die bis heute nicht ganz geklärt ist.
Die dritte fundamentale Kraft ist die starke Wechselwirkung, die so genannt wird, weil sie in der Lage ist, die Atomkerne dank der so genannten Gluonen (von glu = Leim) zusammenzuhalten. Die vierte Kraft ist die schwache Wechselwirkung, die Fragen dieser Art beantwortet: «Warum sind Uran und andere Elemente radioaktiv?» und «Wie beginnt die komplexe Kette von Kernreaktionen, die die Sonne zum Leuchten bringt?» Die Antwort liegt in den W- und Z-Bosonen, den Vermittlern der schwachen Kraft.
Die Umsetzung komplizierter theoretischer Überlegungen in überzeugende Experimente ist jedoch alles andere als einfach. Die von Carlo Rubbia gewählte Strategie besteht darin, Protonen, positiv geladene Teilchen, die in den Atomkernen vorkommen, bei sehr hohen Geschwindigkeiten mit Antiprotonen, fast identischen, aber negativ geladenen Teilchen, zusammenstossen zu lassen.
Bei diesem Aufprall entstehen die W- und Z-Bosonen, die sehr schnell in Teilchen zerfallen (oder anders ausgedrückt «sich umwandeln») und experimentell direkt nachgewiesen werden könnten. Um dieses heikle Experiment durchführen zu können, sah das von Professor Rubbia Ende der 1970er Jahre entwickelte Projekt einen grossen Eingriff in die Infrastruktur der Teilchenbeschleuniger vor, um sie von Proton-Proton-Kollisionen auf Proton-Antiproton-Kollisionen umzustellen.
«Am CERN erhielt ich volle Unterstützung»
Es war jedoch alles andere als einfach, die Institutionen von diesem umfangreichen Vorhaben zu überzeugen. Für einen italienischen Wissenschaftler wie Carlo Rubbia, der Ende der 1970er Jahre in den USA tätig war, gab es nur zwei Orte, um seine Idee in die Tat umzusetzen: Den Teilchenbeschleuniger am CERN in Genf (Super Proton Collider – SPS) oder das Tevatron am Fermilab in Chicago.
«In Anbetracht meiner 20 Jahre in Harvard wäre der Beschleuniger am Fermilab vielleicht der geeignetste Standort gewesen. Bob Wilson, der Direktor und Gründer von Fermilab, entschied sich jedoch für eine andere Vorgehensweise, und so fiel meine Wahl auf das CERN, wo ich die volle Unterstützung der damaligen Direktoren John Adams und Leon Van Hove erhielt», erinnert sich Rubbia. Die US-Amerikaner hielten seinen Ansatz für allzu ehrgeizig und sogar unrealistisch.
Dabei handelt es sich um eine grobe Fehleinschätzung, die von der amerikanischen Presse kritisiert wurde, als im Frühjahr 1983 das von Rubbia geleitete Experiment die Beobachtung der W- und Z-Teilchen innert vier Monaten ankündigte.
Die New York Times veröffentlichte einen Artikel mit dem Titel «Europe 3, U.S. Not Even Z-Zero», in Anspielung auf den vollständigen Namen des Z-Bosons, Z0, der «Zeta Zero» bedeutet. Es war dieses Ergebnis, das Carlo Rubbia und Simon van der Meer 1984 den Nobelpreis für Physik einbrachte. «Es gab ein Klima grosser Begeisterung für die gemachten Entdeckungen», kommentiert der Physiker im Rückblick.
«Aber wer ist denn dieser Rubbia?»
«Am Tag der Bekanntgabe des Nobelpreises gab es – ehrlich gesagt – nicht den berühmten Anruf vom Nobelpreis-Komitee. Ich erfuhr davon aus den Radionachrichten, während ich in Italien in einem Taxi sass.
Der Taxifahrer sagte zu mir: ‹Aber wer ist denn dieser Rubbia?› Er war sehr überrascht, als ich ihm sagte, diese Ankündigung betreffe mich. Er wollte nicht mal mehr das Fahrgeld annehmen», erzählt Rubbia. Und fügt an: «Der Nobelpreis war eine grossartige Sache, aber er hat meine Gewohnheiten nicht verändert.»
Um das Experiment in so kurzer Zeit umzusetzen, bediente sich die Kernphysik erstmals einer grossen internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit namens Underground Area 1 (UA1). Daran waren 126 Personen beteiligt. Die Messungen wurden durch ein Schwesterexperiment validiert, das fast gleichzeitig im selben Beschleuniger durchgeführt wurde und UA2 heisst.
Die Zahl der beteiligten Personen erscheint heute verschwindend gering im Vergleich zur gewaltigen Menge an Beteiligten bei Experimenten wie ATLAS oder CMS, die noch immer am CERN laufen. Bei diesen Versuchsanordnungen arbeiten mittlerweile Tausende von Wissenschaftler:innen aus der ganzen Welt zusammen.
«Generell haben wir in den letzten siebzig Jahren, auch dank der Entwicklungen am CERN, einen tiefgreifenden Wandel erlebt: Die Entdeckungen gehen nicht mehr auf einzelne, unabhängige Forscher zurück, sondern auf grosse vernetzte Wissenschafts-Gemeinschaften. Dies machte bis dahin unmögliche Entdeckungen wie das Higgs-Boson möglich», so der Nobelpreisträger.
Heute ist Carlo Rubbia Sprecher des ICARUS-Experiments, das er 1977 entworfen hat und dessen Ziel die Untersuchung von Neutrinos ist, also von Teilchen, die sehr schwer nachzuweisen sind. Das CERN wiederum bereitet den Bau eines riesigen neuen Teilchenbeschleunigers vor, den Future Circular Collider, der den derzeitigen Large Hadron Collider nach 2040 ablösen soll.
Ohne Grundlagenforschung kein Fortschritt
Diese hochspezialisierte und komplexe Forschung erscheint weit entfernt von den realen Problemen der Gesellschaft. Daher wird sie immer wieder kritisiert, vor allem angesichts ihrer enormen Kosten. In der Tat verschlang die Tätigkeit des CERN im Jahr 2023 mehr als 1,23 Milliarden Franken, welche sich die heute 23 Mitgliedsstaaten teilen. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten wie den unseren gibt es immer wieder Stimmen, die sich fragen, ob es nicht besser wäre, diese Mittel in die angewandte Forschung statt in die Grundlagenforschung zu investieren.
Carlo Rubbia entgegnet dieser Kritik, dass die Grundlagenforschung nicht zufällig Grundlagenforschung genannt werde: «Ohne Grundlagenforschung kann es keine Anwendungen und technologische Entwicklungen geben, die für den Fortschritt und die Entwicklung der Gesellschaft nützlich sind.»
Rubbia nennt eine Reihe von Beispielen, die zeigen, dass Grundlagenforschung am Ende die Realität der Menschen durchaus konkret beeinflusst, beispielsweise das Internet, das als World Wide Web am CERN erfunden wurde. Oder viele Anwendungen in der Medizin.
Die Teilchendetektoren für die Positronen-Emissions-Tomographie (PET), die zur Diagnose von Tumoren eingesetzt werden, wären ohne die Erkenntnisse der Grundlagenforschung nicht denkbar. Das gilt auch für weitere Geräte und Anwendungen, die in der Onkologie zum Einsatz kommen, etwa die Protonen-Strahlentherapie.
Die Anwendungsbereiche des CERN erstrecken sich auf alle Bereiche: «Ich habe zum Beispiel zusammen mit anderen CERN-Forschern ein Programm für den Einsatz supraleitender Kabel zum Transport von Elektrizität über grosse Entfernungen entwickelt.
Diese können wichtige industrielle Nebeneffekte haben und einen Beitrag zum Transport von grüner Energie in grossen Mengen leisten», erklärt der emeritierte Professor.
Doch neben den technologischen Anwendungen gibt es auch Entdeckungen, die schlicht in Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Erkenntnis des menschlichen Daseins stehen.
In der Tat träumen viele Wissenschaftler:innen einfach davon, Experimente durchzuführen, mit denen sie die kleinsten Dinge, die wir kennen, verstehen können. Und wenn sie diese einmal verstanden haben, wollen sie die noch kleineren Dinge entdecken.
Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob
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