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Noch keine Besserung beim Patienten Hausarzt

Aussterbende Spezies? Hausarzt Willi Baldi in seiner Arztpraxis in Entlebuch. Keystone

Immer mehr Spezialisten, immer weniger Allgemeinmediziner: Vor einem Jahr sind Schweizer Hausärzte auf die Strasse gegangen, um gegen diese Entwicklung zu protestieren.

Trotz einiger Massnahmen haben sich ihre Arbeitsbedingungen bis heute nicht gebessert.

Einst nannte man sie «Halbgötter in Weiss». Heute fühlen sie sich gestresst und überarbeitet.

Vor allem die Hausärzte aus ländlichen Gegenden fordern bessere Arbeitsbedingungen, umfassendere Mitspracherechte in der Gesundheitspolitik sowie praxisnahe Aus- und Weiterbildungs-Möglichkeiten.

«Viele Versprechungen und viele schöne Worte gab es, aber konkret ist seit dem 1. April 2006 nicht viel gelaufen», bilanziert François Héritier, Vizepräsident der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SGAM).

Damals gab es die eindrückliche Demonstration der Hausärzte auf dem Berner Bundesplatz. An der Kundgebung gingen 12’000 Ärztinnen, Ärzte und Sympathisierende in Bern auf die Strasse.

Begleitet worden war der Protest von einer Petition unter dem Namen «Gegen die Schwächung der Hausarztmedizin», die in drei Monaten von über 300’000 Personen unterschrieben wurde.

Auslaufmodell?

Die Berufsgattung der Hausärzte könnte dereinst aussterben, lautet die Befürchtung. Nicht ganz zu Unrecht, wie neueste Erhebungen des Schweizer Gesundheits-Observatoriums zeigen. Zwar reicht die Zahl der Ärzte momentan noch aus, doch wirft die Entwicklung zahlreiche Fragen auf.

Der Trend zeigt sich namentlich in abgelegenen Bergregionen. Die Ärztedichte liegt dort mit 7,8 Medizinern auf 10’000 Einwohnerinnen und Einwohner deutlich unter dem nationalen Schnitt (9,4).

«Ganze Regionen verfügen mittlerweile über keine Hausärzte mehr», heisst es in einem Communiqué. Ohne Gegenmassnahmen werde sich die Situation noch weiter verschlechtern.

Finanzielle Anreize

Zur Zeit wählen nur 10% der Medizinstudenten den Weg des Allgemeinmediziners. Dieser Anteil ist zu gering, um einen Generationenwechsel zu garantieren. Das mittlere Alter der Allgemeinpraktiker liegt bei rund 60 Jahren.

«Die jungen Leute sind nicht mehr bereit, die Arbeit eines Hausarztes mit Pikett- sowie Nacht- und Feiertags-Diensten auf sich zu nehmen», stellt François Héritier fest. Zudem brauche es beträchtliche Investitionen, um eine Arztpraxis eröffnen zu können.

Viele Jungmediziner setzten lieber auf eine frühe Spezialisierung: Der Verdienst sei besser und die Arbeit weniger anstrengend, so der Vizepräsident der Gesellschaft.

Um diesem Trend entgegen zu wirken, braucht es wahrscheinlich finanzielle Korrekturen. So könnten etwa die Abrechnungsmodi stärker zugunsten der Allgemeinmediziner und zu Ungunsten der Spezialisten abgeändert werden.

Mit der Einführung des Tarifsystems Tarmed zu Beginn des Jahres 2004 hoffte man, einen Schritt in diese Richtung getan zu haben, indem auch einfache Gespräche von Ärzten im Vergleich zu technischen Dienstleistungen besser bezahlt wurden.

«Die Idee war gut, aber in der Praxis ist es nicht so gut herausgekommen. Die Spezialisten haben nicht weniger und die Hausärzte nicht mehr verdient», konstatiert Héritier.

Bessere Ausbildung

Die Forderungen der Hausärzte beschränken sich aber nicht auf finanzielle Aspekte. Auch im Bereich der Ausbildung machen sie Vorschläge. So sollte ihrer Meinung nach an den Universitäten eine Fakultät für Allgemeinmedizin geschaffen werden.

«Die gibt es in ganz Europa, während in der Schweiz nur Basel über eine solche Fakultät verfügt», betont Héritier.

Gemäss SGAM sollten auch im Rahmen der praktischen Aus- und Weiterbildung als Alternative zu den Spitaleinsätzen vermehrt Praktika im Bereich der Allgemeinmedizin gefördert werden. Einige Kantone haben in dieser Hinsicht schon gehandelt und unterstützen Praktika in Arztpraxen von Hausärzten mit finanziellen Zuschüssen.

Zumindest politisch haben die Hausärzte einiges erreicht. «Wir werden inzwischen ernst genommen und von den Politikern, den parlamentarischen Kommissionen und auch den Kantonen angehört, wenn es um Probleme der Allgemeinmedizin geht», sagt François Héritier.

Trotz dieser Verbesserungen haben die Hausärzte ihr Ziel noch lange nicht erreicht. SGAM-Präsident Hansueli Späth: «Ein Jahr ist zu wenig, um Jahrzehnte des Stillstands zu korrigieren.»

swissinfo, Anna Passera
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Ende 2006 waren in der Schweiz 28’812 praktizierende Ärzte gemeldet (+2% gegenüber 2004), davon 3491 Haus- und Familienärzte.
Seit 2001 hat die Gesamtzahl der Ärzte um zirka 10% zugenommen.
Die Zahl der Ärzte mit eigener Praxis ist rückläufig (53,9%; -0,3% im Vorjahresvergleich).
Auf 487 Einwohner kommt landesweit ein Arzt, der in einer Praxis tätig ist.
Die höchste Ärztedichte weisen urbane Kantone wie Basel (ein Arzt pro 263 Einwohner) und Genf (304) auf.
Im Kanton Nidwalden kommen auf einen Arzt 876 Einwohner, in Obwalden 855 und in Appenzell-Innerrhoden 834.

Gemäss einer im März publizierten Untersuchung der Zeitschrift «Swiss Medical Weekly» leidet ein Drittel der Allgemeinmediziner unter Stress-Symptomen und Burn-Out.

Demnach nehmen 34% der betroffenen Personen regelmässig Schmerzmittel, 14% Beruhigungsmittel. Diese Prozentzahlen liegen doppelt so hoch wie der Durchschnitt der Gesamtbevölkerung.

6% der Hausärzte greifen zudem regelmässig auf Anti-Depressiva zurück.

Gut 8% der Ärzte, darunter vor allem Frauen sowie alleinstehende männliche Ärzte, suchen einen Psychiater auf.

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