Politiker «übertreiben» Jugendkriminalitäts-Problem
Politiker, die versuchten, im Wahljahr mit Jugendkriminaliltät zu punkten, missbrauchten diese jungen Menschen, insbesondere Ausländer, erklärt ein Psychologe gegenüber swissinfo.
Das Thema Jugendgewalt wurde von den Medien vermehrt aufgenommen, seit letztes Jahr diverse sexuelle Übergriffe durch Jugendliche bekannt geworden waren.
Neue Kriminalitäts-Statistiken zeigen auf, dass Jugendkriminalität, insbesondere Gewalt, in der Schweiz zunimmt. Viele der jugendlichen Gewalttäter sind Ausländer. Der Polizeichef des Kantons Zürich hat deshalb angeregt, dass Familien mit gewalttätigen Jugendlichen aus der Schweiz ausgeschafft werden können.
Die rechtsstehende Zeitung «Schweizerzeit», gestützt von der Schweizerischen Volkspartei (SVP), will am Montag in Bern eine entsprechende Petition einreichen.
Diese fordert Einbürgerungen auf Probe, die sofortige Ausweisung ausländischer Vergewaltiger und Gewaltverbrecher. Bei Minderjährigen sollen auch deren Eltern davon betroffen sein.
Der Psychologe Allan Guggenbühl, Professor an der Universität Zürich, ist jedoch der Ansicht, das Problem werde aufgebauscht.
swissinfo: Sind Sie besorgt, dass Jugendkriminalität von Politikern zu Profilierungszwecken benutzt wird?
Allan Guggenbühl: Mich beunruhigt, dass die Jugend durch die politische Debatte missbraucht wird. Es wird viel heisse Luft produziert um das Problem aufzubauschen.
Es werden Vorschläge für nicht angebrachte harte Massnahmen gemacht. Eine reale Gefahr besteht darin, dass solche Massnahmen das Problem verschärfen könnten. Ein neues Schlachtfeld würde erschlossen, welches die Differenzen zwischen der Jugend und den Erwachsenen vergrössern würde.
swissinfo: Trotzdem zeigen die neusten Kriminalstatistiken, dass durch Jugendliche begangene Delikte zugenommen haben. Beunruhigt Sie das?
A.G. Die Tendenz, über solche Verbrechen zu berichten, ist stark gestiegen, weil die Menschen mehr als früher wegen der Gewalt unter den Jugendlichen besorgt sind.
Ich bin mir gar nicht so sicher, dass sich die Gewalttätigkeit unter den Jugendlichen tatsächlich erhöht hat. Es ist jedoch eine neue Art von Brutalität aufgetaucht. Diese stellt keine wirkliche Zunahme, aber ein neues Problem dar.
Was steckt hinter dieser Brutalität?
A.G.: Junge Menschen, Pubertierende, neigen besonders dazu, in der Gesellschaft auffallen zu wollen. Heute gibt es viele Jugendliche, die nicht in unsere Gesellschaft integriert sind, die weder Ziele noch Perspektiven in der Arbeit oder in ihrer Ausbildung haben. Einige unter ihnen wählen den Weg der Gewalt, um sich ein Profil zu geben.
swissinfo: Besonders ausländischen Jugendlichen wird Gewalt vorgeworfen. Stimmt das?
A.G.: Wir haben ein Problem mit einer Minderheit der ausländischen Jugendlichen. Dies ist jedoch keine nationale Bedrohung. Die Zahl krimineller ausländischer Jugendlicher ist hoch. Sie wird aber verständlich, da diese nicht integriert sind und oft aus Ländern mit problematischen Bedingungen stammen.
swissinfo: Ist der Zusammenprall der Kulturen ein Teil dieses Problems?
A.G.: Wir haben hier Jugendliche aus Ländern, in denen es mehr oder weniger normal ist, Gewalt anzuwenden, jemanden zu bekämpfen, von dem man das Gefühl hat, er habe einen beleidigt. Für diese ist es absolut normal, Gewalt mit den Fäusten anzuwenden.
Dies war in der Schweiz vor ein- oder zweihundert Jahren auch der Fall. Aber heute sind wir in diesem Bereich eine sehr zurückhaltende Gesellschaft. Und so haben wir das Problem, dass die anderen eine unterschiedliche Einstellung zu körperlichen Kämpfen haben.
Aber diese Kämpfe sind oft nicht besonders gravierend.
swissinfo: Was tut die Gesellschaft, um das Problem Jugendkriminalität anzupacken?
A.G.: Wir müssen diesen Jugendlichen unsere Werte darüber vermitteln, wie wir Konflikte bewältigen und Kritik gegenüber anderen anbringen können.
Viele Jugendliche sind konfus und wissen nicht, wie sie sich dem anderen Geschlecht gegenüber verhalten sollen. Wir müssen diesen Jugendlichen erklären, welche Werte sie akzeptieren müssen. Leider haben wir nicht genügend Leute, die sie darüber aufklären können. Kein Wunder, fühlen sie sich verloren oder ausgestossen.
swissinfo-Interview: Matthew Allen
(Übertragung aus dem Englischen: Etienne Strebel)
14’106 Jugendliche (11’189 Jungen und 2917 Mädchen) wurden 2005 gemäss dem Eidgenössischen Amt für Statistik Verbrechen überführt. Diese Zahl hat sich gegenüber 1999 um 2000 erhöht.
62,7% der überführten Jugendlichen hatten die Schweizerische Nationalität
Die Zahl der Verstösse gegen das Strassenverkehrsrecht, Angriffe auf Menschen und Vermögensdelikte sind seit 1999 gestiegen. Es wurden jedoch weniger Drogenverstösse registriert.
Prof. Dr. phil. Psychologe VBP/FSP und dipl. analyt. Psychotherapeut Institutsleiter
Leiter der Abteilung für Gruppenpsychotherapie für Kinder und Jugendliche an der kantonalen Erziehungsberatung der Stadt Bern und des Instituts für Konfliktmanagement und Mythodrama (IKM) in Bern und Zürich/Stockholm.
Dozent für Psychologie und Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule des Kantons Zürich und an der Hochschule für Angewandte Psychologie HAP in Zürich.
Kantonaler Schulberater und Autor verschiedener Bücher und Artikel.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch