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Recht auf Bildung – aber nicht für alle Kinder

Nach der Kinderrechts-Konvention sollten in der Schweiz auch Kinder ohne geregelten Aufenthaltsstatus eingeschult werden. Keystone

Auch Kinder ohne geregelten Aufenthaltsstatus haben in der Schweiz ein Recht auf Bildung. Aber nur theoretisch. In der Praxis sieht es in vielen Kantonen anders aus.

Das geht aus einer Gewerkschafts-Umfrage bei den entsprechenden Behörden hervor.

Kinder und Jugendliche im Asylverfahren sollen in der Schweiz von Anfang an eine öffentliche Schule besuchen können. Dies fordert der Schweizerische Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD).

Zurzeit sei die Einschulung lückenhaft. Vor allem die Deutschschweizer Kantone kämen ihren Verpflichtungen gemäss Kinderrechts-Konvention nicht nach.

Tiefer Röschtigraben

Das Recht auf Bildung für alle Kinder sei in allen Kantonen anerkannt, stellen der VPOD, das Centre de Contact Suisses-Immigrés (CCSI) und die Organisation Solidarité sans frontières fest.

Bei der Zulassung von Kindern ohne geregelten Aufenthaltsstatus – Asylsuchende, Sans Papiers – trenne allerdings ein tiefer Graben die Schweiz: Während die Romandie die Kinderrechts-Konvention ohne Wenn und Aber anerkenne, werde in der Deutschschweiz in offiziellen Dokumenten nicht auf sie Bezug genommen.

Diese Diskrepanz zwischen der französisch-sprachigen und der deutsch-sprachigen Schweiz sei auch für ihn erstaunlich, sagt Ruedi Tobler, Redaktor VPOD-Magazin für Schule und Kindergarten und Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Projekt Interkulturelle Bildung.

«Die Menschenrechte sind offensichtlich in der französischen Schweiz gut aufgenommen, während sie in der Deutschschweiz nicht zur Kenntnis genommen werden», so Tobler zu swissinfo.

Schule als Hilfspolizist

Dafür werde in der Deutschschweiz mehr oder weniger eindringlich auf fremdenpolizeiliche Regelungen verwiesen. Und immer wieder drücke die Abschreckungspolitik gegen Ausländer und Flüchtlinge durch.

In den Kantonen Solothurn und Bern habe die Fremdenpolizei sogar ausdrücklich das Recht, von der Schule eine Liste der ausländischen Kinder zu verlangen, kritisiert der VPOD weiter. Der Schule werde also eine Hilfspolizeifunktion zugemutet. Und zwar, obwohl die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) bereits 1991 erklärt habe, alle fremdsprachigen Kinder seien in die öffentlichen Schulen einzugliedern.

Der EDK komme in dieser Frage eine Führungsrolle zu, sagt Ruedi Tobler. «Ich hoffe, dass sie auf die Ergebnisse unserer Umfrage mit einer Erneuerung ihrer Empfehlungen reagiert.»

Kontroverse Einschulung

Im Widerspruch zu den Empfehlungen der EDK werde der Schulbesuch Kindern und Jugendlichen von Asylsuchenden in Durchgangszentren an verschiedenen Orten in der deutschen Schweiz verweigert, halten VPOD, CCSI und Solidarité sans frontières fest. In Aarwangen (BE) beispielsweise seien zwölf Kinder betroffen.

Man sei nicht verpflichtet, solche Kinder einzuschulen, erklärte jüngst der stellvertretende Schulleiter von Aarwangen, Fritz Läng. Der Lehrer beruft sich auf eine Empfehlung der Berner Erziehungsdirektion von 1998, Kinder aus Durchgangszentren nur dann einzuschulen, «wenn es sinnvoll, angemessen und notwendig erscheint und in bestehenden Klassen Platz vorhanden ist». Und sofern keine zusätzlichen Kosten entstehen.

«Die Kosten sind kein Argument. Die Schweiz hat die Kinderrechts-Konvention ratifiziert, sie sind Bestandteil unseres Rechts, die Verpflichtung besteht», sagt dazu Ruedi Tobler.

Lehrpersonal hört man häufig sagen, es nütze nichts, Kinder einzuschulen, die vielleicht nach 14 Tagen schon wieder gehen würden. Das bringe nur Unruhe für die Klasse, und die Eltern würden reklamieren.

Unterforderte Kinder – psychische Probleme

Was mit Kindern geschieht, die nicht eingeschult werden, hat Anni Lanz, Geschäftsführerin von Solidarité sans frontières, selbst gesehen. Sie hat vor kurzem zwei Durchgangsheime im Kanton Bern besucht und mit betroffenen Jugendlichen gesprochen.

«Diese Jugendlichen sind sehr verzweifelt. Als ich auftauchte, dachten sie sofort, dass ich ein Rettungsanker bin, der sie da herausholt», sagt Anni Lanz gegenüber swissinfo.

«Diese Leute wollen etwas lernen, und ohne Schule wird ihr Horizont im Durchgangsheim sehr eingeschränkt. Sie suchen dann nach erwachsenen Bezugspersonen von aussen. Und das ist mit einem grossen Risiko verbunden.»

In dieser Situation litten die Jugendlichen auch an psychischen Problemen haben. Anni Lanz: «Einerseits ist da eine grosse Unterforderung vorhanden und andererseits auch das Verlieren von Grenzen.»

Beispielhaftes Genf

Als beispielhaft wird der Kanton Genf bezeichnet, wo Kinder unabhängig vom rechtlichen Status der Eltern die Schule besuchen könnten, sagt CCSI-Koordinator Jean-Stephan Clerc. Die Aufnahme in eine Regelklasse habe innerhalb von 24 Stunden nach der Anmeldung zu erfolgen.

Mit Unterstützung des Kantons würden die Kinder auch gegen Krankheit und Unfall versichert. Um Eltern ohne Aufenthalts-Bewilligung den Kontakt zu erleichtern, werde auf eine Meldung bei einer Amtsstelle verzichtet. Anlaufstelle für die Anmeldung zum Schulbesuch sei das CCSI.

Notfalls dem Genfer Beispiel folgen

VPOD, CCSI und Solidarité sans frontières fordern eine Anpassung von Asyl- und Ausländergesetz. Bei der laufenden Revision müssten Bestimmungen aufgenommen werden, welche die Aufnahme von Kindern ohne geregelten Aufenthaltsstatus sichern.

Weiter soll mit einer Empfehlung durch die kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren der Fremdenpolizei untersagt werden, via Schule an Informationen von Eltern und Kinder zu gelangen.

Ferner verlangen die Organisationen Ombudsstellen für Fälle verweigerter Einschulung sowie die Schaffung einer eidgenössischen Menschenrechts-Kommission.

Auch in Genf hätten seinerzeit die sogenannten «versteckten Kinder» nicht in die öffentlichen Schulen gehen können. Dann hätten eben private Organisationen Empfangs- und Schulstrukturen geschafft, sagt Ruedi Tobler.

«Ich denke, im allerschlimmsten Fall müsste heute auch in der Deutschschweiz so etwas für die Kinder ohne geregelten Aufenthaltsstatus organisiert werden.»

swissinfo, Jean-Michel Berthoud

Umfrage: In allen Kantonen bei den Erziehungsdirektionen und bei den Schuldirektionen der Gemeinden mit über 25’000 Einwohnern
Kantone GE, NE, VD, VS: Gehen in ihren Regelungen explizit von den Menschenrechten und den Verpflichtungen zu ihrer Umsetzung aus
Kantone BE, BS, GR, LU, NW, OW, SG, SO, SH, TG, UR, ZH: Menschenrechte finden keine Erwähnung, dafür wird mehr oder weniger eindringlich auf fremdenpolizeiliche Regelungen verwiesen

Das Recht auf Bildung für alle Kinder ist grundsätzlich in allen Schweizer Kantonen anerkannt. Aber es gibt grosse Unterschiede bei den Vorkehrungen, dies in die Praxis umzusetzen.

Bei der Zulassung von Kindern ohne geregelten Aufenthaltsstatus trennt ein tiefer Graben die deutsche und die französische Schweiz.

In der Romandie sind die Menschenrechte Mass und Ziel, sie werden für alle Kinder ohne Wenn und Aber anerkannt. In der Deutschschweiz wird in den offiziellen Dokumenten nicht auf sie Bezug genommen. Es drückt immer wieder die Abschreckungspolitik gegen Ausländerinnen und Flüchtlinge durch.

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